Der Liebeswunsch
vielleicht leichter gefallen als mir hier im Zimmer. Ich hätte es aber nicht anders haben
wollen, denn es kam mir so vor, als verließe mich von Minute zu Minute alles, was nichts mit uns zu tun hatte. Als er ins
Zimmer trat, hatte ich die vollkommene Ausschließlichkeit erreicht. So schloß ich ihn in die Arme. Er ist mein, er ist mein,
dachte ich. Ich wußte, spürte, daß ich ihn halten mußte, denn er hatte wegen mir den sicheren Boden seines bisherigen Lebens,
hatte Besitz und moralisches Einverständnis verlassen. Und wir hatten noch nichts dagegenzusetzen, außer diesem Raum und uns
selber. Am sichersten waren wir jetzt im Bett.
Über alles, was er hinter sich gebracht hatte, bevor er nach London aufbrach, sprachen wir erst am nächsten Tag. Und noch
später, erst kurz vor unserer Abreise, tauchte in unserem Gespräch Leonhard auf. Paul fragte mich, ob Leonhard nicht den Wunsch
geäußert habe, zusammen mit mir nach England zu reisen. Ich antwortete, in diesem Fall hätte ich ihm gleich gesagt, daß ich
mich von ihm trennen wolle. Aber ich wußte – und das war ein Teil meiner blitzschnellen Überlegungen gewesen, als ich meinen
Reiseplan entwarf –, daß Leonhard zur selben Zeit einen großen Schwurgerichtsprozeß und eine Reihe anderer wichtiger Termine
hatte.
Leonhard war dabei, Karriere zu machen. Ein wenig fühlte ich mich dadurch entlastet. Sein Beruf als Richter war das Wichtigste
für ihn. Ihm widmete er seine ganze Intelligenz und Energie. Während das Privatleben in seinem Verständnis ein Lebensbereich
war, für den man einmal eine Gründungs- und Grundsatzentscheidung zu treffen hatte, indem man eine Frau heiratete, und der
danach von Regeln geleitet wurde, die man vernünftigerweise nicht in Frage stellte. In historisch gewachsenen Institutionen
und Konventionen, pflegte er zu sagen, sei mehr praktische Lebensweisheit enthalten als in den kurzatmigen und wirren Subjektivitäten
des modernen Selbstverwirklichungskultes. Er war ein streitbarer Polemiker gegen den »herumstreunenden Individualismus« ohne
festen Hintergrund. Und eigenartigerweise stimmte Paul ihm meistens zu, so als verkörpere Leonhard für ihn ein höheres geistiges
Prinzip, gegen das er nun schmählich verstoßen hatte, indem er seine Frau und seine Kinder verließ und ihm, seinem Freund,
die künftige Lebenspartnerin wegnahm.
Paul, der völlig zermürbt war von den quälenden Trennungsgesprächen mit seiner Frau, schien in einer Panikstimmung nach London
gekommen zu sein. Ich vertraute aber darauf, daß sein Selbstgefühl sich erholen würde, wenn wir einige Zeit zusammen waren.
Natürlich war er auch gespalten zwischen den Gefühlen, die er für mich empfand, und seinem freundschaftlichen Vertrauensverhältnis
zu Leonhard, der anscheinend bisher noch nichts von allem bemerkt hatte, was sich hinter seinem Rücken und schließlich auch
vor seinen Augen zwischen uns abgespielt hatte.
Ich machte mir Sorgen um Paul. Er war angeschlagen von den Gesprächen mit seiner Frau und hatte gegenwärtig wohl kaum die
Standfestigkeit, um seinem Freund Leonhard mit dem Geständnis seines Verrats gegenüberzutreten. Doch er war fest davon überzeugt,
daß das seine Pflicht sei. Ich mußte erst lange mit ihm reden, um ihn davon abzubringen. Ich war die erste, die mit Leonhard
sprechen mußte. Von mir sollte er es erfahren. Dann konnte er selbst überlegen, ob er überhaupt noch mit Paul sprechen wolle
oder nicht. Ich dachte, wenn ich es ihm in dieser Weise und Reihenfolge vor Augen führte, könne Leonhard das noch als eine
Anerkennung unserer persönlichen Gemeinsamkeit verstehen. Es würde ihn jedenfalls weniger kränken, als wenn er es von Paul
erfuhr. Und Paul hätte sich vermutlich vor Schuldgefühlen gewunden. Nein, Leonhard und ich mußten das miteinander ausmachen.
Und ich fühlte mich dazu stark genug und ohne Angst.
Gleich nachdem wir aus London zurück waren, habe ich Leonhard abends besucht. Wir wohnten noch getrennt, was ursprünglich
nicht auf mein Zögern zurückging, sondernauf Leonhards Vorstellung, daß dem Einzug in eine gemeinsame Wohnung vernünftigerweise eine Zeit des Kennenlernens vorausgehen
solle, die dann, wenn nichts Entscheidendes dazwischenkam, mit der Hochzeit endete. Ich hatte das immer als sehr konventionell
empfunden. Wenn ich aber an die Schwierigkeiten dachte, die Paul mit seinem Auszug aus der ehelichen Wohnung bevorstanden,
konnte
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