Der Liebeswunsch
schwerzüngig
sagte: »Da sind wir ja wieder«, sah er sie für einen Augenblick deutlich vor sich, wie sie die Ellbogen auf eine Wirtshaustheke
stemmte und mit beiden Händen ihren Kopf hielt, damit er nicht mit der Stirn in die verschütteten Getränke zwischen den Gläsern
sank.
»Du bist ja völlig betrunken«, sagte er.
»Ja, bin ich«, sagte sie und machte mit der rechten Hand eine langsame, wehende Bewegung, die etwas Störendes, das vor ihr
zu stehen schien, wegzuwischen versuchte – vielleicht eine Ansammlung leergetrunkener Gläser oder Gesichter, die sie anstarrten,
oder lästige Gedanken.
»Du weißt ja wohl, was passiert ist«, sagte sie.
»Ja. Ich hab’s allerdings durch Marlene erfahren, nicht von dir.«
»Marlene, natürlich, Marlene«, äffte sie ihn nach.
»Du hast mich ja nicht angerufen. Hast du es wenigstens versucht? Oder daran gedacht?«
Er hoffte, sie würde ja sagen, auch wenn es eine Notlüge war. Ein einfaches Ja hätte ihm als ein Zeichen der Verständigung
genügt. Aber sie war zu betrunken, um die Situation zu verstehen und auf das Angebot seiner Frage einzugehen. Er sah es an
der Ruckartigkeit, mit der sie den Kopf schüttelte, und an ihrem verschwimmenden Blick. Dies also war seine Frau. Niemand
konnte ihm fremder sein. Was für eine entsetzliche Schwäche war es, sich so gehenzulassen.
»Das einzig Richtige ist, du legst dich jetzt hin«, sagte er.
»Is nicht richtig«, widersprach sie mit schleppender Stimme und einem kindischen Eigensinn, mit dem sie zu leugnen versuchte,
was allzu offensichtlich war. Sie schwankte. Und als habe sie ihren Halt verloren, streckte sie ihren Arm nach der Lehne eines
Stuhles aus, der zwischen ihr und dem Tisch stand, und ließ sich schwer auf den Sitz sinken. Nach einer der kurzen Abwesenheiten,
die ihre Bewegungen und sicher auch ihre Gedanken unterbrachen, ließ sie sich mit dem Oberkörper gegen die Tischplatte sacken
und stützte den Unterarm auf, um Schläfe und Wange erschöpft in der offenen Handfläche zu bergen. Zu seinem Erstaunen schloß
sie die Augen, und ihr Gesicht entspannte sich. Plötzlich, sie war wohl wirklich eingenickt, rutschte ihr Ellbogen zur Seite,
und sie schreckte hoch.
»Ich glaube, ich brauch ’nen starken Kaffee«, murmelte sie und starrte vor sich auf den Boden, als hoffe sie da etwas zu finden,
was sie verloren hatte und woran sie sich nurmühsam erinnerte. Doch jetzt sah sie ihn an, als erkenne sie ihn wieder, und fragte: »Gehn wir zusammen essen?«
Er war nicht auf diesen Vorschlag vorbereitet, gegen den sich alles in ihm sperrte. Aber er wußte nicht, wie er das sagen
sollte.
»Bitte«, drängte sie. »Ich erzähle dann auch alles.«
»Nicht nötig«, antwortete er. »Ich habe inzwischen mit dem Krankenhaus telefoniert.«
»Und mit Marlene.«
»Das sagte ich ja schon.«
»Also, gehn wir essen?«
»Nein«, sagte er. »Nicht in deinem Zustand.«
»In meinem Zustand? Was für 'n Zustand?«
Ihre Antwort verschlug ihm die Sprache. Wollte sie ihn provozieren? Oder war sie völlig weggetreten?
»Gehn wir jetzt essen?« fragte sie wieder.
»Nein«, sagte er, »du gehörst ins Bett. Das weißt du ja wohl selbst. Also sei vernünftig und leg dich hin.«
»Scheiße!« schrie sie ihn an. »Warum willst du nicht mit mir reden?«
»Du mußt erst lernen, dich zu beherrschen«, sagte er und ging in sein Arbeitszimmer, schloß hinter sich die Tür. Sein Herz
klopfte schnell und schwer. Ein leises Wimmern war im Nebenzimmer zu hören. Oder hatte er sich getäuscht? Die Stille beunruhigte
ihn noch mehr. War sie weggegangen? Um der Versuchung zu widerstehen, nachzuschauen, was sie machte und wie es ihr ging, setzte
er sich in seinen Sessel. Nach einer Weile zog er die Zeitung heran, hielt sie aber auf seinem Schoß fest, ohne zu lesen.
Sie war wohl wirklich nach oben gegangen, wie er es von ihr verlangt hatte. Doch es kam ihm so vor, als habe sie ihn verlassen.
Eswar ein beängstigendes, aushöhlendes Gefühl, dem er nicht gewachsen war. Aber er wollte nicht hinter ihr herlaufen und sie
um Versöhnung bitten. Denn auch dafür würde er am Ende bestraft werden.
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9
Marlenes Erzählung 2
Ich glaube, man hat zweierlei Augen: die äußeren und die inneren. Die einen sehen, was man schon weiß. Und die anderen sehen,
was man noch nicht weiß. Meistens sind diese zweiten Augen geschlossen. Und wenn sie sich öffnen, sehen sie undeutliche Bilder,
die nicht
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