Der Liebeswunsch
Frühstücksturbulenzen zu Hause noch nicht gelesen und ließ sich informieren. Eine
schwangere Frau hatte ihren alkoholisierten Mann mit dem Hammer erschlagen und ihn dann in einer geradezu unvorstellbaren
Kraftanstrengung mit dem Fahrrad auf die Landstraße hinausgeschoben und dort hingeschmissen, um einen tödlichen Verkehrsunfall
vorzutäuschen. Das war natürlich ein Fall für die 1. Kammer. Damit würden sie über kurz oder lang zu tun bekommen. Im Augenblick
interessierte ihn das nicht. Er mußte wieder daran denken, wie oft er schwere Steine von Stegen, Brücken oder vom Ufer aus
ins Wasser geworfen hatte. Das war für ihn damals so gewesen, als behaupte er sich und sage vernehmlich: Hier bin ich! Als
habe er angeklopft an die Welt. Nun, er hatte natürlich niemanden dabei verletzt. Er hatte nichts Unerlaubtes getan. Aber
er hatte immer darauf geachtet, daß er allein war und ihn niemand sah.
Vor der Tür seines Zimmers verabschiedete er Dr. Kemna und ging hinein, um zu Hause anzurufen. Eigentlich hatte er nichts
Besonders mitzuteilen, er hatte nur das Bedürfnis,zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Es meldete sich niemand. Vielleicht war Anja einkaufen gegangen und hatte den Jungen mitgenommen.
Und Frau Schütte war längst weg. Er legte auf. Er wollte ohnehin jetzt nach Hause fahren. Die Akte schloß er in den Schrank
ein. Die ungelesene Tageszeitung nahm er mit.
Etwas befremdet war er schon, daß er jetzt um die Mittagszeit niemanden zu Hause vorfand. Später dachte er, es war das Gefühl
einer schlechten Vorahnung, das mich beschlich, als ich die Haustür aufschloß und durch die Räume des Erdgeschosses ging,
wo alles aufgeräumt war und die Möbel wie in einer Ausstellung herumstanden. Auch oben war niemand zu hören, keine Stimme,
keine Schritte, die die Treppe herunterkamen. Er verbot sich, »hallo« zu rufen. Schließlich war das nur unerwartet, aber normal.
Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich in den großen englischen Ledersessel, der dicht beim Bücherregal neben dem Fenster
stand. Dazu gehörte ein ebenfalls mit dunklem Rindsleder bezogener Hocker, auf den er die Beine legte, wenn er las. Er schlug
die Zeitung auf und las den Artikel über die schwangere Frau, die ihren Mann mit dem Hammer erschlagen hatte. Sie war eine
Aussiedlerin aus Polen, die von ihrem alkoholisierten Mann immer wieder drangsaliert und geschlagen worden war, weil sie Geld
versteckt hatte, das er vertrinken wollte. Er überflog den Bericht, der auf der letzten Seite stand, blätterte dann die Zeitung
von hinten nach vorne durch und las die Überschriften und hier und da die fettgedruckten Zeilen, die den zentralen Sachverhalt,
um den es in den Artikeln ging, an den Anfang stellten. Schon im Lesen vergaß er die meisten Nachrichten wieder,und manchmal merkte er, daß er ganze Sätze nur als leere Wortfolgen gelesen hatte. Gleichzeitig hatte er etwas anderes gedacht,
das auch schon wieder entschwunden war. Ich brauche einen Kaffee, dachte er.
Auf dem Weg zur Küche kam er am Telefon vorbei. Sollte er vielleicht Marlene anrufen? Möglicherweise hatte sie etwas von Anja
gehört. Doch während er wählte, sagte er sich, daß seine Unruhe übertrieben sei, und wollte schon wieder auflegen, als Marlene
sich meldete.
Er sagte, daß er Anja und Daniel suche, die nicht zu Hause seien, wo er sie eigentlich zu Mittag erwartet habe.
»Ja, weißt du denn nichts?« fragte sie.
»Nein. Was soll ich denn wissen?«
Er spürte, wie Marlene zögerte, wie sie Luft holte, ehe sie sagte: »Daniel liegt im Krankenhaus in der Amsterdamer Straße.
In der Isolierstation. Er hat sich mit kochender Milch verbrüht.«
»Wie ist denn das passiert? War denn niemand bei ihm?«
»Ich weiß es nicht genau. Anja war total aufgelöst, als sie mich anrief. Sie ist wohl vom Sender angerufen worden, und Daniel
wartete auf seinen Kakao und hat die kochende Milch vom Herd gerissen.«
Wie in einem kurzen Ausschnitt aus einem Film, der ohne Ton abgespielt wurde, sah er Daniel in seinem Schlafanzug mit der
rutschenden Hose in die Küche kommen, wo der Topf mit der überkochenden Milch auf dem Herd stand, den er am Griff anfaßte.
Hier erlosch das Bild. Statt dessen glaubte er das Schreien zu hören.
»Sind die Verbrühungen schlimm?« fragte er.
»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall muß er längere Zeit im Krankenhaus bleiben, in der Isolier- und Wachstation.«
»Weißt du, wo Anja
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