Der Liebeswunsch
richtig hineinpassen in die klar umrissene Welt der bekannten Tatsachen, über die wir uns einig sind und an denen
wir festzuhalten versuchen, weil an ihnen unser gewohntes Leben hängt. Aber eigentlich sollte man diese zweiten Augen die
wissenden nennen. Denn was sie sehen, meist undeutlich und schattenhaft, manchmal wie in einem kurzen, grellen Lichtschein,
ist auch schon da, nur noch unvollständig verhüllt von den gewohnten Tatsachen, wie von einer verrutschenden Maske.
Was mich jetzt beschäftigt, nachdem ich weiß, was ich nicht wußte, sind die kleinen Momente des Aufmerkens, die man wieder
zudeckt, weil man sie nicht wahrhaben will und nicht brauchen kann, und dann andererseits der plötzlich aus dem Dunkel auftauchende
Wunsch, etwas Beängstigendes wissen zu wollen, um jeden Preis. So jedenfalls war es bei mir. Und einige Zeit danach auch bei
Leonhard. Bei den beiden anderen hat sich vielleicht etwas Ähnliches abgespielt. Ich kann es aber nicht erklären, und es ist
mir nicht erklärtworden. Ich glaube, daß keiner von beiden es für möglich gehalten hat, bis es plötzlich geschah.
Und ich habe ihnen den Weg freigemacht. Oder ihnen eine Falle gestellt. Ich kann heute nicht einmal sagen: ohne es zu wollen.
Das ist alles immer noch verworren. Ursachen und Wirkungen sind nicht deutlich zu unterscheiden. Begründungen sind Rechtfertigungsversuche,
und jeder bastelt an seinen eigenen.
Wir waren ein menschliches Mobile – vier Figuren an unsichtbaren Fäden, pendelnd umeinander kreisend und ständig in Gefahr,
sich ineinander zu verhaken. Ich glaubte allerdings, den Mechanismus in der Hand zu haben. Jahrelang ist es ja auch einigermaßen
gutgegangen. Für jeden natürlich auf andere Weise und am wenigsten für Anja. Das wußte ich zwar, aber ich sagte mir: Es war
ihre eigene Entscheidung. Und sie muß nicht von vornherein falsch gewesen sein.
Daniels Unfall hat einen Riß in Leonhards und Anjas Ehe hinterlassen, das war meine Kurzformel, die ich dafür fand. Richtiger
wäre es gewesen zu sagen, der Unfall habe die verborgenen Risse sichtbar gemacht. Wäre es denn nicht erwartbar gewesen, daß
ein solches Unglück die Eltern noch enger zusammenführt?
Leonhard ist nie zusammen mit Anja ins Krankenhaus gegangen, um Daniel zu besuchen. Er weigerte sich zwar nie direkt, doch
er richtete es so ein, daß Anja nicht dabei war, wenn er Daniel besuchte. Sie bemerkte es natürlich und empfand es als eine
stumme Beschuldigung. Er wollte sie nicht in der Nähe haben, wenn er am Bett des Jungen saß. Allerdings war er laut Anja nur
zwei- oder dreimal dort, während sie in den drei Wochen, die Daniel in der Klinik bleiben mußte, jeden Tag hinging. Ich weiß nicht, welche Besuche Daniel
lieber waren, denn später hat er sich mehr und mehr Leonhard angeschlossen. Mag sein, daß ihm das ein größeres Gefühl von
Sicherheit gab.
Als er entlassen wurde, zeigte mir Anja die dicken roten Narbenstränge an Daniels Hals und Schultern. Es sah schlimm aus,
und ich glaube, daß dieser Anblick Leonhard verstört hat, obwohl ich ihm, nicht anders als die Kollegen vom Zentrum für Brandverletzungen,
sagte, daß sich bei einem so jungen Körper die Narben noch weitgehend zurückbilden könnten. Ich hatte den Verdacht, daß Daniels
verletzter Körper für Leonhard ein heimliches Symbol seiner selbst war. Auch er, dachte ich, fühlt sich als ein Gezeichneter.
Deshalb erregte es ihn so, Daniels Narben zu sehen. Die andere, viel schlimmere Gefahr, daß die Narben zu Fehlhaltungen führten,
die Daniel in seinem Wachstum behinderten und ihn zu einem Krüppel machen konnten mit schiefem Hals, schiefer Schulter, unterentwickeltem
Arm und vielleicht sogar mit einem Buckel und eingefallener, das Atmen behindernder Brust, sah er anscheinend nicht in der
gleichen Schärfe. Oder er scheute sich, darüber zu reden.
Immerhin fühlte er sich veranlaßt, Anja einen Polo zu schenken, damit sie mit Daniel täglich zur Gymnastik, zur Massage und
wöchentlich zum Arzt fahren konnte. Und er bat seine Schwiegermutter, für einige Zeit zu kommen und den Haushalt zu übernehmen.
Ähnlich gründlich und komfortabel hatte er nach Daniels Geburt Anjas Heimkehr aus der Klinik organisiert. Diesmal allerdings
war sie nicht depressiv. Mir schien sogar, daß sie sich, angestoßen vonLeonhards Verhalten während Daniels Klinikaufenthalt, neu auf ihre Situation eingestellt hatte. Damals hatte ich mit
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