Der Liebhaber meines Mannes
Informationen teilend. Zum hundertsten Mal fragte ich mich, wo du warst und was aus dir geworden war. Ich machte sogar die Carpaccios in der Academia ausfindig und starrte lange auf die beiden Männer auf dem Gemälde von den englischen Gesandten. Ich konnte dich beinahe hören, wie du Tom alles darüber erzähltest. Ich konnte seinen ernsthaften Gesichtsausdruck sehen, wie er alles aufsog. Während ich umherging, schwitzend und mit wunden Füßen, fragte ich mich, was genau icheigentlich tat. Hier war ich, eine einsame Frau Anfang sechzig, die versuchte, den Spuren ihres Mannes und seines Liebhabers in einer fremden Stadt zu folgen. War es eine Art Pilgerfahrt? Oder vielleicht eine Katharsis, um die Geister von 1958 für immer zu verjagen?
Es stellte sich heraus, dass es nichts von beidem war. Es war ein Katalysator. Lange überfällig, vielleicht zu spät, aber nichtsdestoweniger ein Katalysator. Bald danach tat ich, was ich schon seit Jahren hatte tun wollen: Ich machte dich ausfindig. Ich holte dich zurück.
An dem Samstag, an dem ihr beide weg wart, verbrachte ich nach einer schlaflosen Nacht fast den ganzen Tag im Bett. Sätze und Bilder aus dem Reiseführer schwirrten mir durch den Kopf. »Die friedliche Atmosphäre einer Stadt, die ganz im Wasser erbaut ist, muss man erleben, um es zu verstehen.« Ich schlief unruhig und träumte, ich wäre auf einer Gondel, die weit hinaus aufs Meer fährt, und ihr beide winktet mir vom Ufer zu. Es war unmöglich, zu euch zu kommen, denn im Traum war ich wieder da, wo ich einmal angefangen hatte: Ich konnte nicht schwimmen und hatte Angst ins Wasser zu gehen.
Ungefähr um sechs Uhr zwang ich mich, aufzustehen und mich anzuziehen. Ich versuchte, nicht auf den leeren Platz im Schrank zu blicken, wo Toms Anzug gehangen hatte, oder die Stelle an der Tür, wo normalerweise seine Schuhe standen. Durch Aufbietung meiner ganzen Willenskraft – oder vielleicht war es einfach nur Müdigkeit – dachte ich nur an den Portwein mit Limo, der mich erwartete. Der widerliche erste Schluck, der brennende Nachgeschmack. Ich hatte mich mit Julia auf einen Drink in der Queen’s Park Tavern verabredet und Sylvie eingeladen, auch zu kommen. Sie hatte aufgeregt gewirkt, als ich sie fragte, es würde das erste Mal sein, dass sie ihr erst wenige Wochen altes Mädchen, Kathleen, denAbend mit ihrer Schwiegermutter allein lassen würde. Kathleen hatte Roys schwarze Haare und leicht hervortretende Augen. Als ich zu Besuch gewesen war, hatte ich den Eindruck, dass Sylvie schon von ihrer Tochter enttäuscht war. Sie sprach über das Baby, als hätte es eine vollständig ausgebildete Persönlichkeit und wäre fähig, sich den Absichten seiner Mutter bewusst zu widersetzen. »Oh«, hatte Sylvie gesagt, als ich Kathleen gehalten und das Mädchen zu weinen begonnen hatte, »sie will immer beachtet werden.« Zwischen Sylvie und ihrer Tochter herrschte von Anfang an ein Kampf.
Ich kam absichtlich etwas früher im Pub an, um etwas zu trinken, bevor ich Sylvies Fragen nach Toms gegenwärtigem Aufenthalt ausgesetzt war, obwohl es bedeutete, dass ich allein sitzen und die Blicke der Stammgäste ertragen musste. Ich wählte die Nische, in der Julia und ich an dem Abend nach der Schule gesessen hatten, und zwängte mich in eine Ecke. Sobald ich den ersten Schluck getrunken hatte, ließ ich wieder den Gedanken an euch beide zu und stellte mir vor, dass ihr gerade auf einer sonnenüberfluteten Terrasse Spaghetti gegessen habt. Ich hatte Tom gehen lassen, sagte ich mir. Und jetzt würde ich damit leben müssen.
Sylvie kam herein. Ich sah, dass sie extra für diesen Anlass die Haare aufgedreht hatte – nicht eine Strähne war nicht an der richtigen Stelle –, und sie trug viel Make-up: hellblau-metallicfarbene Striche über den Augenlidern, perlmutt-pfirsichfarbenen Lippenstift. Ich vermutete, dass sie versuchte, ihre Müdigkeit zu verbergen. Obwohl es ein warmer Abend war, hatte sie einen weißen Regenmantel mit Gürtel und einen engen zitronengelben Pullover an. Während ich beobachtete, wie sie herüberkam, wurde mir plötzlich klar, dass sie ganz anders war als Julia, und machte mir ein bisschen Sorgen, dass die beiden sich überhaupt nicht verstehen würden.
»Was trinkst du gerade«, fragte Sylvie und betrachtete misstrauischmein Glas. Sie lachte, als ich es ihr sagte. »Ich glaube, meine Tante Gert hat eine Schwäche für Port mit Limo. Aber zum Teufel, ich probier einen.«
Sie setzte sich mir
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