Der Liebhaber meines Mannes
»Für Geständnisse bin ich nicht zuständig. Dafür gibt es einen Priester, der sie am Sonntag gerne hört. Glauben Sie?«
»Nicht an einen Gott, der so viele verdammt.«
»So viele – wie Sie?«
»Alle möglichen.«
Es herrschte eine Weile Schweigen.
»Es interessiert mich, warum Sie das Bild quälend finden.«
»Ich hätte gedacht, das ist ziemlich offensichtlich.«
Russell hob die Augenbrauen. Wartete.
»Es erinnert an Schönheit. An das, was außerhalb dieser Wände ist.«
Er nickte. »Sie haben recht. Aber manche entdecken Schönheit, egal, wo sie sind.«
»Hier gibt es nicht viel davon.«
Wieder eine lange Pause. Er tippte dreimal mit dem Füller auf sein Notizbuch und lächelte, ganz plötzlich. »Wollen Sie geheilt werden?«, fragte er.
Ich hätte fast gelacht. Beherrschte mich, als ich die Eindringlichkeit von Russells ernstem Blick spürte.
Die Frage war leicht zu beantworten. Wollte ich mehr Zeit hieroben, in diesem hellen, warmen Zimmer verbringen und mit Russell am Kaminfeuer plaudern? Oder wollte ich zurück in meine Zelle?
»Ja«, sagte ich. »Oh ja.«
Wir würden uns einmal die Woche treffen.
Ich sage, dass ich alles Mögliche tue, um nicht an Tom zu denken, aber natürlich denke ich meistens an Tom. Und es ist die Hölle. Und je mehr ich an ihn denke, desto weniger finde ich Gründe, warum wir nicht zusammen sein könnten. Je mehr ich an ihn denke, desto weniger erinnere ich mich an etwas, das falsch war oder schwierig. Alles, woran ich mich erinnere, ist, wie süß er war. Und das ist am schwersten zu ertragen. Trotzdem kehren meine Gedanken immer wieder dahin zurück. Kehren zurück nach Venedig. Besonders zu der Fahrt mit dem Wassertaxi mitten in der Nacht über die Lagune in die Stadt. Wir stiegen in die glänzende Kabine aus Holz, saßen zusammen hinten im Boot und unser Kapitän schloss die Luke, damit wir für uns waren. Dann rasten wir über die Wellen, so schnell, dass wir nicht aufhören konnten, über die Kühnheit zu lachen, mit diesem kleinen Boot so übers schwarze Wasser zu fahren. Zoom, sausten wir dahin. Zoom. Unsere Oberschenkel berührten sich. Unsere Körper wurden durch die Geschwindigkeit zurückgedrückt. Und dann verlangsamte das Boot plötzlich das Tempo und Venedig tauchte draußen vor dem winzigen Fenster in seiner ganzen Schönheit auf. Tom hielt die Luft an und ich musste über sein Staunen lächeln. Für mich war das Erstaunlichste, dass er in der kleinen Kabine, die für die Zeit der Überfahrt zu unserem Hotel uns allein gehörte, seine Hand auf meine legte.
Wie die meisten, die das erlebt haben, dachte ich tatsächlich die ganze Zeit von der Verhaftung und dem Gerichtsverfahren bis zuden ersten paar Tage hier drinnen, dass jemand auftauchen und erklären würde, dass es sich um einen schrecklichen Irrtum gehandelt hätte, und mich im Namen aller Beteiligten um Entschuldigung bitten würde. Alle Türen, die hinter mir zugeschlagen waren, würden sich wieder öffnen und ich würde durch sie hindurchgehen, hinaus in die klare Luft, weg von dem seltsamen Theaterstück, das jetzt mein Leben war.
Aber nach dreizehn Wochen hier drinnen habe ich mich wie die meisten anderen an den Ablauf gewöhnt. Und ich befolge ihn mit demselben teilnahmslosen, ergebenen Blick. Sechs Uhr dreißig morgens. Die Sirene signalisiert, dass es Zeit zum Aufstehen ist. Sieben Uhr. Toilettentopf ausleeren, aufpassen, dass man seinen Nachttopf mit größtmöglicher Lässigkeit trägt. Kaltes Wasser holen und mit zugeteilter stumpfer Klinge rasieren. Seitdem ich Umgang mit anderen haben darf, kann ich mit den anderen Männern draußen essen, statt alle Mahlzeiten allein in meiner Zelle einzunehmen. Aber es ist derselbe Abwaschwasser-Tee, altes Brot, eine Spur Margarine und – fast schmackhaft – eine Schüssel Porridge. Vielleicht ist Porridge ohnehin so scheußlich, dass man ihn kaum schlimmer machen kann. Dann Arbeit in der Bibliothek. Weil ich dort bin, komme ich an Hefte und Schreiber, aber das Wort »Bibliothek« ist dafür ein Witz – die Bücher sind alle schmutzig (in strikt wörtlichem Sinn) und veraltet. Es ist unmöglich für einen Häftling, irgendetwas zu bekommen, das er tatsächlich lesen will, außer den wenigen Taschenbuch-Western, die auf jedem Flur ausliegen. Die Bibliothek ist düster, aber zumindest ist es dort etwas wärmer als im Rest des Gefängnisses. Ein Heizkörper funktioniert. Der diensthabende Wärter – O’Brien – muss schon kurz vor der
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