Der Lilienring
müssen jetzt nicht aufs Meer hinausziehen und unsere Fische zum Abendessen selbst fangen«, bedachte Cilly kritisch.
»Ich habe unterwegs den Hinweis auf einen Supermarkt gefunden. Versuchen wir unser Glück. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir völlig am Rande der Zivilisation gelandet sind.«
Diese Vermutung bestätigte sich, und wir plünderten kurz darauf den erstaunlich gut ausgestatteten modernen Markt. Mit Kisten und Beuteln bepackt kehrten wir zurück, bereits genussvoll an den knusprigen Broten kauend.
»Ich will das Meer sehen!«, forderte Cilly, nachdem wir unsere Vorräte verstaut und einen leichten Imbiss eingenommen hatten.
»Das kann nicht weit von hier entfernt sein. Ich rieche es«, antwortete Rose und stand auf. »Erkunden wir mal die Umgebung. Kommst du mit, Anita?«
»Aber sicher.«
Es war zwar sonnig, aber ein recht frischer Wind ließ es angeraten sein, eine warme Jacke über die dünnen Pullover zu ziehen. Die Strümpfe ließen wir jedoch zu Hause und gingen barfuß in unseren Sandalen die Stra ße entlang, die der Richtung nach an den Strand führen
musste. Straße war sicher ein zu vornehmes Wort für den kaum befestigten Schotterweg, der rechts und links von hohen Hecken eingegrenzt war. Wir waren kaum fünf Minuten gegangen, als ein Pfad abzweigte, der mit einem hölzernen Hinweisschild gekennzeichnet war. Das Piktogramm wies ihn als Küstenwanderweg aus.
»Hier lang.«
Wenige Schritte mussten wir noch durch niedriges, verfilztes Gras voller kleiner Blumen gehen, dann wurde der Boden sandig unter unseren Füßen, und wir standen oben auf der Düne.
Es war unbeschreiblich.
Über den blauen Himmel hetzte der Wind die Wolken, die ihr Licht- und Schattenspiel über dem weißen Halbmond einer weiten Bucht trieben. Diese Bucht war von der hohen Düne umgeben und schien menschenleer zu sein. Die graublaue Wasserfläche glitzerte weit draußen, es war die Zeit der Ebbe. Vereinzelte braune Tangballen lagen auf dem nassen Sand, und in flachen Rinnsalen floss das Wasser ab. Rund geschliffene graue Felsformationen ragten hier und dort aus dem Watt auf und dienten ganzen Scharen von weißen Möwen als Ausguck.
Ich atmete die salzige, reine Luft tief ein und schloss die Augen. Erst als ich mich mutig genug fühlte, öffnete ich sie wieder und drehte mich nach rechts.
Da lag sie, die kleine, grüne Erhebung. Nicht weit vom Ufer entfernt, nur fünf-, sechshundert Meter etwa. Jetzt war sie trockenen Fußes zu erreichen, doch wenn die Flut kam, würde sie eine vom Festland abgeschnittene Insel sein. Die Ile de Sieck. Zwei Häuser standen darauf, beide in der typischen Bauform des Landes. Aus grauem Stein, mit schwarzem Schiefersatteldach, rechts und links jeweils mit dem hohen Kamin abschließend,
Holzläden an den Fenstern, Hortensien vor der Tür. Ein mit weißem Kies bestreuter Weg führte vom Watt hinauf zu dem ersten Haus und verzweigte sich zu einem Fahrweg, der sich offensichtlich zu dem zweiten Gebäude hinzog. Ein Teil des winzigen Eilands schien landwirtschaftlich genutzt zu sein, Hecken umgaben Felder mit wogendem, noch grünem Getreide. Eine kleine Mole war an der zur Bucht gewandten Seite ins Meer hineingebaut, darin dümpelten drei blau, weiß und rot angemalte Fischerboote.
»Anniks Insel?«, flüsterte Cilly neben mir.
»Wer weiß?«
»Du, Anita.«
Ja, ich wusste es. Oder – es war nicht unbedingt Wissen, das sich bei mir einstellte. Es war ein Bewusstsein, ein unbeschreibliches Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Ich verbannte es sofort. Noch war nicht die Zeit dafür.
»Los, dieser unberührte Sand schreit danach, unsere Fußabdrücke aufzunehmen.«
»O ja, erobern wir ihn. Setzen wir unsere Zeichen!«
Wir rissen uns die Sandalen von den Füßen und rannten los.
Erschöpft, hungrig, windzerzaust, mit sandigen, salzigen Beinen vom Waten im Meer kamen wir später zurück und stürmten die Küche. An diesem Abend war keine von uns noch in der Lage, sich mit Marie-Annas Aufzeichnungen zu befassen. Wir sanken mit der Dämmerung in die weichen Betten und tauchten erst im hellen Licht des Morgens wieder auf.
Das Wetter erwies sich an diesem Tag als leicht unbeständig. Es wechselte sehr schnell zwischen sonnigen Abschnitten, dicken Wolken und gelegentlichen Schauern. Dazu pfiff ein scharfer Wind von Osten. Also blieben
wir vorerst im Haus und nahmen uns das vierte Tagebuch vor.
Zu dritt übersetzten wir, mit Wörterbuch und Lexikon bewaffnet, zunächst ein
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