Der Lilith Code - Thriller
fließende grüne Wucht. Neben ihm steht eine junge Frau barbusig. Sie lächelt ihn an, legt ihre Arme auf das Wehr. Ihre Brüste treiben im Wasser hin und her. Er taucht ein wenig in die Hocke, will seinen Bauch nicht zeigen. Er lächelt. Kaskaden schwappen über. Wasser rauscht. Kubikmeter um Kubikmeter drückt es gegen das Wehr. Es tost, rauscht, als wolle es den Städtern die Wut der Berge, aus denen es kommt, entgegenschreien.
Wäre er so alt wie sein Sohn, denkt er, wäre er den ganzen Sommer hier. Schauen, schwimmen, schreien. Er hört seinen Sohn nicht. Hört nicht, dass der schreit. Sieht nur, wie die Frau sich fragend umdreht und die Brüste tanzen. Und dann sieht er den Mann. Dieser schreit ihn an. Doch der Arzt versteht nicht.
»Da unten liegt ein Kind«, ruft der Mann, und sein Gesicht ist verzerrt.
Plötzlich versteht er.
Ein Kind ist direkt neben ihm zwischen Eisenstange und Wehrplatte geraten. Beine und Rumpf schauen auf der anderen
Seite schon heraus. Nur der Kopf passt nicht hindurch. Es ist sein Sohn. Er erkennt die Badehose. Er will rufen, wedelt mit den Armen. Die Männer schauen. Er taucht. Sieht die kreischenden Augen seines Kindes. Taucht auf. Chaos um ihn. Menschen reden auf ihn ein. Wasser in seinen Ohren. Wieder will er rufen. Er will sich gegen das Wasser drücken. Sein Sohn ruft, schreit, rudert mit den Armen. »Das ist mein Kind.«
Andere Männer tauchen unter. Tauchen auf. Treiben gegen das Wehr. Es ist sein Sohn. Nicht ein anderer. Sein Sohn. Er holt Luft. »Lieber Gott, bitte hilf mir!« Er sucht die Lippen des Sohnes. Dessen Kopf schlägt schon nicht mehr hin und her. Er ist in den Nacken gefallen. Der Mund ist geöffnet. Er drückt den Kopf nach vorn. Presst seine Luft in die Lungen seines Sohnes. Er taucht auf. »Einen Schlauch, holt einen Schlauch!« Er schluckt Wasser. Sie sehen ihn nur an, schreien, tun nichts. Er schnappt nach Luft. »Bitte, lass es nicht passieren.«
Mittlerweile steht ein Dutzend Männer im Wasser, einige versuchen, die Platte zu bewegen. Ihre Köpfe scheinen vor Anstrengung zu platzen. Menschen halten ihre Hände vor das Gesicht. Seine Augen brennen. Die Lungen tun weh. Er kann nichts mehr sehen.
Er sieht den Rettungswagen nicht, nicht die Männer, die ihn aus dem Wasser hieven, ihn zum Rettungswagen tragen und in eine Decke rollen.
»Wo ist mein Sohn?«, fragt er leise.
Ein junger Mann sitzt neben ihn. Er schaut betreten. »Sein Zustand ist sehr ernst. Sie bringen ihn gerade zu uns. Ihre Frau ist informiert. Sie ist schon im Krankenhaus.«
Und der Arzt, der so viele andere Herzen in der Hand hatte, spürt sein eigenes Herz. Er hört das Piepsen und sieht das beruhigende Grün des Monitors.
Der Wagen rumpelt durch die gelbheiße Stadt. Er dreht den Kopf. Sie haben ihn beruhigt. Der Assistent, kopfüber, schiebt das Fenster zur Fahrerkabine beiseite. Er spricht mit dem Notarzt. Sie haben gute Nachrichten. Er wird durchkommen. Seine Frau ist auch schon da. Er wird es schaffen. Das Wasser war
eiskalt. Und nie mehr wird er dort schwimmen gehen. Er will beten. Und dann sieht er den jungen Sanitäter, der den Kopf schüttelt, und er hört den Dauerton … Aber seine Gedanken wollen sich nicht auf Sätze einigen. Und an diesem Sonnentag, der alles lähmt, hält am Abend ein anderer Arzt das Herz eines Kindes in der Hand und steckt es in ein anderes Kind.
»Sie könne mich nicht mehr ertragen – hat sie gesagt. Und ich kann sie verstehen. Nach der Beerdigung zog ich aus. Sie hat sich, so hörte ich von meinen Schwiegereltern, bereits neu verliebt und arbeitet wieder im Kunstgeschäft.« Jan atmete tief durch. In wenigen Wochen war der Tod seines Sohnes ein Jahr her. Er begann still zu weinen.
Regina hatte still zugehört. Ein Arzt, dem sein eigener Sohn unter den Händen wegstarb. Warum war das Leben so grausam? Weinende Männer brachen ihr das Herz. Sie saß hilflos neben dem Deutschen, sie kannte ihn kaum, und doch fühlte sie seinen Schmerz. Er atmete tief durch, lächelte sie mit einem schiefen Grinsen an. Ihre große Hand, die keinen Schmuck trug, berührte seine Wange, strich über seine Lippen. Mehr konnten und wollten sie nicht. Und so drehten sie sich aufs Bett, lagen minutenlang still nebeneinander.
»Erzähl mir von dir«, sagte Jan leise in die Stille hinein.
(th) Nach der missglückten Razzia in der Cappuccino-Bar an der südöstlichen Tangente zog Hofrat Deuser die Notbremse. Die Leiterin des Einsatzteams der Kriminaldirektion 1
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