Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
Michael nicht am nächsten Morgen schon wieder an meinem Tisch und wartete auf sein Frühstück?«
Michaels Geist zumindest, doch das brauchte Colleen Danni nicht erst zu erklären. Konnte sein Erscheinen vor ihnen beiden als Zauberei bezeichnet werden? Danni rief sich in Erinnerung, wie Sean an jenem Abend auf sie gewirkt hatte, als er an ihrer Tür erschienen war. Da hatte sie ihn keineswegs für einen Geist gehalten. Und selbst als sie es schon gewusst hatte, als er sie berührt und sie geküsst hatte ... war es ihr real erschienen. Nicht so real wie vergangene Nacht, doch genug, um es zu glauben.
»Er ist aber nicht der einzige Geist auf dieser Insel, nicht?«, bemerkte Danni. »Was ist mit der Weißen Frau?«
»Was weißt du von der Weißen Frau?«, versetzte Colleen scharf.
»Ich habe sie gesehen.«
»Und was hat sie getan, als du sie sahst? Hat sie dir irgendetwas angeboten?«
»Ihren Kamm.«
Colleen zog erschrocken den Atem ein.
»Ich habe ihn aber nicht genommen. Sean hat mir gesagt, dass ich das niemals tun soll.«
»Ja, er ist ein kluger Junge. Demnach weiß er also von deinen Visionen?«, fragte Colleen neugierig.
»Ich habe ihm erzählt, das mit der Weißen Frau sei ein Traum gewesen, aber er hat erraten, wie es wirklich war.«
»Lügen sind nie eine Lösung, Kind. Wenn ihr einander retten wollt, darf es keine Geheimnisse zwischen euch geben.«
»Und deshalb bin ich hier? Um Sean zu retten?«
»Und er dich.«
»Mithilfe des Buches? Ist es das? Muss ich es benutzen?«
Colleen schüttelte den Kopf. »Wie solltest du das tun? Um es zu benutzen, müsstest du es haben. Und um es zu haben, müsstest du wissen, wo es sich befindet.«
»Du hast danach gesucht, nicht wahr?«, fragte Danni, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Und du hast es auch gesehen und versucht, es mitzunehmen.«
»Ich habe es nur einmal gesehen«, erwiderte Colleen. »In den Händen meines Sohnes, kurz bevor er alles zerstörte, was mir lieb und teuer war.«
»Du hast es wirklich gesehen? Nicht nur in einer Vision?«
Colleen nickte, während sie Danni prüfend in die Augen sah. »Und du?«
»Nur in Visionen. Zweimal inzwischen schon.«
Das zufriedene Lächeln, zu dem sich die Lippen der alten Frau verzogen, ließ keinen anderen Schluss für Danni zu, als dass sie sehr geschickt zu diesem Punkt geführt worden war.
»Und was hast du gesehen?«, bohrte die alte Dame weiter.
»Genug, um dir dieses zufriedene Lächeln vom Gesicht zu wischen.«
»Das ist keine Zufriedenheit, was du da siehst«, erwiderte Colleen.
»Was dann?«, gab Danni scharf zurück. »Das Buch von Fennore ist böse. Das konnte ich mehr als deutlich spüren, und ich war nicht einmal dort. Nicht wirklich jedenfalls.«
»Das ist richtig. Das Buch kann dir alles geben, was du dir wünschst, doch was es dir dafür abverlangt ... Es nimmt dir den Teil von dir, der dich zu einem Menschen macht.«
»Aber du würdest es mich trotzdem benutzen lassen?«, fragte Danni entrüstet und gekränkt.
»Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst oder nicht. Hörst du mir denn nicht zu?«
»Ich höre dir sehr wohl zu.« Und Dannis Ton besagte, dass sie auch nur allzu gut verstand, was ihr gesagt wurde. Colleen war bereit, sie zu opfern, wenn sich alle anderen dadurch retten ließen. Plötzlich war Danni müde, so über alle Maßen müde, dass sie aufstand und einen Schritt in Richtung Haus tat.
»Ich bin hier nur der Bote, Danni«, gab Colleen leise zu bedenken.
»Komisch, aber genau das Gleiche sagte mir auch Sean, als er zu mir kam. Und weißt du was? Das macht es überhaupt nicht besser. Denn soviel ich weiß, ist der Sensenmann auch bloß ein Bote.«
Colleens Augen wurden schmal. »Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Dáirinn! Ich bin noch immer deine Großmutter und verlange den mir zustehenden Respekt von dir.«
»Meine Großmutter?«, wiederholte Danni aufgebracht. »Das ist bloß ein technisches Detail. In Wahrheit bist du eine Fremde. Nicht mehr und nicht weniger, Colleen.«
»Und wessen Schuld ist das?«
Danni starrte sie nur sprachlos an. Wessen Schuld? War die Frau verrückt?
Aber Colleens Augen sprühten jetzt förmlich, als sie zu Danni ging und mit einem Finger auf sie zeigte. »Ich werde es dir sagen, da du ja auf einmal die Sprache verloren zu haben scheinst. Es ist deine Schuld, Dáirinn MacGrath. Und ganz allein die deine.«
Danni stieß empört die Luft aus. »Wie kannst du das sagen? Weißt du, wie das Leben für mich war? Hast du
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