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Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)

Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)

Titel: Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Quinn
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Aber wie sollte er etwas erklären, was er selbst nicht verstand?
    »Ich musste kommen«, erwiderte er schließlich zögernd. »Ich hatte keine Wahl, und das ist die reine Wahrheit, Niall. Aber deine Frage nach dem Warum kann ich dir leider auch nicht beantworten.«
    Niall nickte. »Das ist fair genug. Du willst mir nichts Böses, so viel kann ich jetzt schon sagen.«
    Daraufhin zog Sean die Augenbrauen hoch, aber nicht aus Spott, sondern aus Neugierde. Woher wollte Niall wissen, dass Sean keine Bedrohung für ihn darstellte?
    »Oh, ich habe auch ein bisschen was von einer Gabe. Nicht wie Brigid, sie war durch und durch eine Ballagh. Ein bisschen zu viel sogar, wenn du verstehst, was ich meine. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass irgendwo in ihrem Familienbaum mehr als ein Zweig von derselben Wurzel stammte.«
    Inzest. Inzucht. Na prima, dachte Sean. Sogar seine Gene waren nichts wert.
    »Ihre Gabe machte sie verrückt. Sie hatte keine Kontrolle über das, was sie sah, und keine Möglichkeit, es einzuordnen. Was sich ihr zeigte, konnte sich zehn Jahre zuvor ereignet haben oder sich erst vierzig Jahre später abspielen. Brigid sah es eben nur. Sie dachte, ich sei ihr untreu, obwohl ich bei ihrem Grab schwöre, dass ich es nie gewesen bin. Sie sah mich in einer ihrer Visionen mit einer anderen Frau, und das war alles, was sie wusste.«
    Niall richtete einen durchdringenden Blick auf Sean, als versuchte er, sie beide zu überzeugen. Dann seufzte er. »Wir waren erst kurze Zeit verheiratet, als mir klar wurde, wie unser Leben in den nächsten Jahren aussehen würde - ein Wirbelsturm von wahllos in einem fehlerhaften Netz verfangenen Möglichkeiten. Brigid verlor schon bald die Fähigkeit, zwischen der Realität, also den tatsächlichen Geschehnissen in der Welt, und dem, was sie in ihren Visionen sah, zu unterscheiden. Sie war schön und liebenswert und voller Leben, als ich sie kennenlernte und zu meiner Frau machte, aber am Schluss war dieses Mädchen von der Krankheit in ihrem Kopf zugrunde gerichtet worden. Weißt du, was sie zu mir sagte, als sie sterbend in meinen Armen lag?«
    Sean, dessen Mund plötzlich wie ausgedörrt war, schüttelte den Kopf. Er hatte die letzten Worte seiner Mutter nicht verstehen können.
    »Sie sagte: ›Danke, Liebster!‹ Und ich saß da, selbst blutend und einer Ohnmacht nahe, weil sie wie eine Löwin auf mich losgegangen war und mich verletzt hatte, und sie dankte mir. Überall war Blut, das sich mit meinen Tränen vermischte, sodass ich nur noch wie durch einen roten Schleier sah. Es zerriss mir das Herz, als ich hinter mir meine Söhne bemerkte, die mich ansahen, als wäre ich ein wildes Tier, vor dem man Angst haben musste. Aber dann kamen sie zu mir und weinten sich in meinen Armen aus. Ich glaube, wenn ich in diesem Moment gestorben wäre, wäre das in Ordnung gewesen, weil ich wusste, dass sie mich nicht hassten.«
    Nialls Gesichtsausdruck spiegelte die gleichen Emotionen wie an diesem Morgen wider - Resignation, Schmerz und eine paradoxe Hoffnung.
    »Er ist derjenige, um den ich mich sorge«, sagte Niall mit einem Blick auf seinen ältesten Sohn. »Er ist in einigen Dingen genau wie sie. Er hat ein gutes Herz und eine robuste Seele, würde dir sein letztes Stückchen Brot geben, ohne dass du darum bitten müsstest. Aber er ist ebenso sehr ein Ballagh, wie Brigid eine war. Sosehr er auch dagegen ankämpft, er hat die Gabe - oder den Fluch, sollte man vielleicht besser sagen.«
    Sean versteifte sich, als es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Es stimmte nicht, was Niall sagte. Er hatte die Gabe nicht. Er hatte noch nie etwas vorausgesehen, bevor es eintraf. Und schon gar nicht so etwas wie das, was er heute Morgen mit angesehen hatte.
    »Du meinst, dass er eine hellseherische Gabe hat?«, fragte Sean.
    Niall wiegte den Kopf. »In gewisser Weise, ja. Es gab eine Zeit, in der Michael mir auf See einen Weg weisen konnte und ich ihm blindlings folgte, weil er immer ganz genau wusste, wo die Leinen ausgeworfen werden mussten. Er konnte mir auch sagen, welche Stürme zu erwarten waren, bevor sie sich auch nur zusammenbrauten. Und seine Mutter - oh, wie gut er sie durchschauen konnte! ›Dad‹, pflegte er zu sagen, ›Mum ist wieder mal geladen. Gib acht bei ihr.‹«
    Nialls Worte trafen Sean wie ein Donnerschlag. Ein Teil von ihm spaltete sich ab, und der erinnerte sich plötzlich wieder. Es hatte tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, in der er das Wetter, die Fischgründe und

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