Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
was er denken sollte. Was bedeutete es, dass Trevor die surreale Wiederholung der Szene heute Morgen überlebt hatte? Hatte Danni Sean nur gezeigt, wovon er sich immer gewünscht hatte, er hätte es getan? Seinen kleinen Bruder zu beschützen und zu retten? Seine Schuldgefühle, weil er genau das eben nicht getan hatte, hatten sein Leben lang an ihm genagt. Wie viele Jahre hatte er sich dafür gehasst? Vielleicht hatte er ja Dannis Traum - ihre Vision - abgewandelt, weil er wünschte, dass es so gewesen wäre?
Tief in Gedanken versunken, gelangte er plötzlich an den Hafen. Zuerst roch er nur den Gestank des ausgenommenen Fischs, der feuchten Netze und des Teers, dann hörte er das Plätschern der Wellen gegen die vor Anker liegenden Boote, das Knarren und Stöhnen von durchnässtem Holz und das dumpfe Pochen des Schiffsrumpfs gegen die Kaimauer. Das Poltern von Schritten auf dem Schiff. Und dann hatte er den Nebel überwunden und trat auf den geschwärzten, mit Kreosot behandelten Pier, der in die Bucht hinausragte. Ein halbes Dutzend Schiffe lagen hier vor Anker. Ein halbes Dutzend andere Liegeplätze waren bereits leer. Die Guillemot war noch vertäut und tanzte auf der Stelle.
»Du kommst spät«, bemerkte Niall mit einem harten Blick zu Sean.
Michael blickte von der Spule auf, um den Austausch zu verfolgen, doch bevor Sean etwas erwidern konnte, kam ein weiterer Junge aus der Kajüte hinauf und lächelte ihn an. Er hatte ein offenes, rundes Gesicht, das noch weich von der Jugend und der Unschuld war. Ein dichter Teppich von Sommersprossen bedeckte seine Nase und seine Wangen, und seine Augen waren strahlend blau. Beim Anblick seines schnellen, scheuen Lächelns, bei dem eine Zahnlücke erkennbar wurde, verkrampfte sich Seans Herz. Gott, dieser Junge da war Trevor ...
»Ich sagte, du kommst spät«, wiederholte Niall mit einem Anflug von Gereiztheit in der Stimme.
»Tut mir leid«, sagte Sean, noch immer völlig abgelenkt vom Anblick seines jüngeren Bruders. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Trevor war hier und lebte noch!
Schnell ging Sean an Bord und machte sich daran, die Taue einzuholen und den Anker zu lichten, wobei er sich mit der mühelosen Geschicklichkeit bewegte, die von einer auf ebendiesem Deck verbrachten Kindheit herrührte.
Aber er konnte nicht umhin, sich immer wieder über die Schulter zu dem Jungen umzusehen - nach diesem fremden und doch so herzzerreißend vertrauten Jungen, der neben Michael stand und mit ihm tuschelte.
Als sie schließlich volle Fahrt voraus der aufgehenden Sonne entgegenfuhren, starrte Sean auf das glitzernde Wasser und dachte, dass es wie das Ende der Welt aussah, wo die Sonne glutrot die graue See berührte. Er konnte einfach nicht aufhören, an die jüngsten Geschehnisse zu denken. Während er sich mit seinen Gedanken auseinandersetzte, trat Niall neben ihn und blickte sich hin und wieder prüfend nach Trevor um, der jetzt das Ruder führte. Michael saß neben ihm, zog seinen Bruder auf und lachte über irgendetwas, das Trevor erwiderte.
Gott im Himmel, Danni hatte die Vergangenheit verändert!
Und seinen Bruder gerettet.
Gierig nahm Sean den Anblick der durch das Leben und ihre Blutsbande verbundenen Jungen in sich auf, die nun wieder vereint waren durch den Willen einer Frau, die Sean wohl nie verstehen würde. Aber er war dankbar - so unendlich dankbar, dass er hätte weinen können. So unglaublich es auch war: Danni hatte das Wunder zustande gebracht. Er musste den Blick abwenden, um den Tränen, die in seinen Augen brannten, Einhalt zu gebieten.
Danni hatte nicht nur den Ausgang, sondern auch Seans Sichtweise des an jenem Tag Geschehenen verändert. Heute Morgen hatte er den Gesichtsausdruck seines Vaters gesehen, als seine Mutter ihm das Messer in den Rücken gestoßen hatte. Der abgrundtiefe Kummer und die Trauer, die in seinem Gesicht gelegen hatten, ließen sich mit Worten nicht beschreiben. Sie gingen viel tiefer als die scharfe Klinge, tiefer als der Ozean sogar. Und Sean hatte gesehen, wie sein Vater den Messerstich in Kauf genommen hatte, um ihn - oder den jungen Michael - vor dem gleichen Schicksal zu bewahren.
Er hatte jetzt keine Zeit, bei dem Gedanken zu verweilen, aber die neu gewonnenen Erkenntnisse nahmen ihm eine Last von den Schultern, die er schon fast so lange, wie er zurückdenken konnte, mit sich herumgeschleppt hatte. Und ohne diese Last fühlte er sich so viel leichter, so viel stärker.
Schon bald brachten sie die Köder
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