Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
er erwischt wurde. Er hatte sie angesehen wie einen Freak, sie ausgelacht und auch weiterhin geschummelt. Als er erwischt wurde, gab er ihr die Schuld daran. Er warf ihr vor, dem Lehrer Lügen erzählt zu haben, und ihre Pflegeeltern glaubten ihm.
Es bedurfte jedoch noch anderer Lektionen - alle schmerzlich tief in ihrem Gedächtnis eingebrannt -, bis Danni endlich zu verstehen begann, dass sie eine Ausgestoßene war, solange sie Dinge sah. Und deshalb gab sie es auf. Sie wusste nicht, wie, aber irgendwie hatte sie diesen Teil von sich so abgeschottet und hielt ihn an einem so dunklen, tiefen Ort verborgen, dass sie seine Existenz schon ganz vergessen hatte - bis dieser Weckruf heute Morgen die Falltür aus den Angeln gerissen und alles wieder zum Ausbruch gebracht hatte. Jetzt wollte sie nichts mehr, als herauszufinden, wie sie dem Ganzen wieder einen Riegel vorschieben konnte.
Von der Logik her war Danni klar, dass Yvonne ihr die Visionen nicht verargen würde. Aber Logik hatte nichts mit den Gefühlen zu tun, die Danni ergriffen, wenn sie nur an den ungläubigen Blick dachte, der zweifellos in den Augen ihrer Pflegemutter erscheinen würde, wenn sie ihr die Wahrheit erzählte. Hey, Yvonne, weißt du was? Dieser Typ, den ich in einer Vision gesehen habe, ist heute Morgen aufgetaucht, um mir zu sagen, dass ich eine Familie habe. Cool, was? Nur glaube ich leider, dass sein Dad meinen Bruder umgebracht hat - oh, und ich vermute auch, dass dieser Typ in Wahrheit schon sehr lange tot ist.
Yvonne würde glauben, sie hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, und damit läge sie auch gar nicht mal so falsch.
»Mir geht's nicht so besonders heute«, sagte Danni. »Hättest du was dagegen, wenn ich nach Hause ginge?«
»Natürlich nicht. Hoffentlich kriegst du nicht die Grippe.«
»Ja, das hoffe ich auch.«
»Soll ich dich heimfahren?«
»Nein, das ist nicht nötig. Wir sehen uns dann morgen. Und herzlichen Glückwunsch zu dem Biedermeierschrank.«
Trotz ihrer Besorgnis konnte Yvonne nicht anders, als zu grinsen. »Ich wette, dass ich den schon verkauft habe, bevor du zu Hause bist.«
An jedem anderen Tag wäre Danni mit ihrer Ausrede nicht davongekommen, aber heute blickte die sonst so scharfsinnige Yvonne zum Glück nicht tiefer, als Danni es ihr erlaubte. Ihre Tasche und ihren Laptop unter dem Arm, verabschiedete Danni sich und beeilte sich, den Laden zu verlassen.
6. Kapitel
S ean wusste nicht, wo er hingehen sollte, nachdem er Dannis kleinen Antiquitätenladen verlassen hatte, und so unternahm er einen Spaziergang, von dem er hoffte, dass er die Anspannung in seinem Magen lockern würde. Sie hatte sich dort festgesetzt und immer weiter aufgebaut, seit er Danni das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte. Sie schmerzte, war aber irgendwie auch tröstlich.
Denn wie lange war es her, seit er irgendetwas anderes empfunden hatte als den Kummer und die Schande, die sein Vater in jener so lange zurückliegenden Nacht über sie alle gebracht hatte? Wie lange war es her, seit er mehr verspürt hatte als die wenigen Fragmente von Leben, die noch unter seiner Haut schwärten? Und das schon länger, als er sich erinnern konnte.
Aber als Danni ihm heute Morgen die Tür geöffnet und ihn mit ihren großen grauen Augen angesehen hatte ... da hatte sich tief in seinem Innersten etwas gerührt. Er hatte es in jeder Pore, jedem Nerv, in jedem Teil seines Seins gespürt. Und er wollte mehr davon.
Er war verwirrt gewesen, als seine Großmutter darauf bestanden hatte, dass er herkam, um Dáirinn MacGrath heimzuholen. Natürlich war ihm klar gewesen, dass Dannis Überleben Zweifel an der Täterschaft seines Vaters wecken und sie heimzubringen vielleicht endlich den Familiennamen reinwaschen würde. Aber Nana hatte noch einen anderen Grund gehabt, ihn nach Amerika zu schicken - einen, den er weder sehen noch verstehen konnte und der so hintergründig war wie Nana selbst.
Was jedoch auch immer Großmutters Gründe waren, sie schienen keine Rolle mehr zu spielen, seit sie von seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen überschattet worden waren. Er war Dannis wegen hier. Nicht mehr und nicht weniger.
Sean merkte, dass er plötzlich wieder vor ihrem Haus stand, und war gar nicht überrascht, dass seine Füße, so wie jeder andere Teil von ihm, beschlossen hatten, ihn hierher zu führen. Während Dannis verrückter kleiner Hund sich drinnen im Haus in einen Wutanfall hineinsteigerte, machte Sean es sich in einem der Sessel auf der
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