Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
Vom Netzwerk:
erklären, dass die Straße hier endete. Das war alles. Das war die Insel.
    An diesem Nachmittag ging er mit einem Tauchlehrer schnorcheln, und Marina blieb im Hotel. Sie langweilte sich. Er brauchte eine Zeit, um es zu bemerken, aber es war so. Damals erklärte er es sich damit, dass er in einem anstrengenden Beruf hart arbeitete und einmal im Jahr vollkommen abschalten musste – genauer gesagt, das Recht dazu hatte –, während es in ihrem Kopf noch Raum gab. Marina
schien das Gleiche zu denken. Den Rest ihres Aufenthalts dort waren sie miteinander glücklich, doch irgendwie war es jetzt sein Urlaub, nicht ihrer.
    Und nun, zehn Jahre später, war er wieder dort, wieder im Ritz-Carlton, wenn auch in einem kleineren Zimmer, und bereitete sich auf sein Gespräch mit der Polizei der Caymans vor. Diesmal wurde er statt von seiner schönen Frau von Lawrence Griffin und zwei gewaltigen Russen begleitet. Trotzdem war er froh, herzukommen. Nach dem Einchecken stand er am Fenster seines Zimmers, unfähig sich zu konzentrieren. Eigentlich sollte er lange Listen von Unternehmen und Transaktionen durchgehen, die er für den nächsten Tag zusammengestellt hatte. Doch beim Blick auf den Strand konnte er nur an Marina denken. Der Grund, warum es ihr hier nicht wirklich gefallen hatte, das begriff er jetzt, war, dass sie mit der Welt in Kontakt bleiben musste. Ständig. Flucht ergab für sie keinen Sinn, weil sie nichts hatte, vor dem sie fliehen musste.
    Für ihn dagegen ergab es immer noch Sinn, was ihn selbst ein wenig überraschte. Obwohl er hier zum ersten Mal in seinem Leben von einem Polizisten befragt werden sollte, obwohl er insgeheim Angst davor hatte – er war dennoch froh, hier zu sein. Ihm gefiel sein Zimmer mit dem hohen Bett, dem Radiowecker, den Tagesdecken auf dem Bett, die jeden Abend wie von Zauberhand verschwunden waren, wenn er schlafen wollte. Ihm gefiel es, zum Frühstück nach unten zu gehen, eine Schale mit Joghurt und Orangensegmenten zu füllen, bevor er sich beim Koch Spiegeleier geben ließ. Ihm gefiel es, die Einstellungen am Duschkopf zu verändern, bis das Wasser in einem harten Strahl auf seinen Nacken pulsierte. Ihm gefiel es, seine Anzüge und Hemden
aufzuhängen, die Ärmel aufzukrempeln, sein Rasierzeug und seine Zahnbürste im Badezimmer auszulegen und eine kleine Welt für sich einzurichten, in der Russen, selbst der vor der Tür stehende, nicht existierten – auch wenn diese Welt nicht von Dauer war. Ihm gefiel die Hitze, die Ruhe des Meeres. Doch vor allem anderen gefiel es ihm, sich an Marina zu erinnern und an eine Zeit, in der er noch lebendig genug gewesen war, ihr imponieren zu wollen.
    Die Polizei war am Ende doch nicht furchterregend. Zwei Engländer, Mitte fünfzig, höflich, aber hartnäckig, stellten ihm die gleichen Fragen, die zwei Wochen zuvor schon Greene in Paris gestellt hatte, allerdings nicht so viele und ohne Greenes Gehässigkeit. Und Griffin stand daneben, um zu verhindern, dass er sich eine Grube grub. Es war nicht angenehm, aber es war auch nicht grausam. Lock bekam den Eindruck, dass die beiden so gründlich waren, wie es ihre Mittel zuließen. Sie trafen sich zweimal, einmal am Nachmittag seiner Ankunft und das zweite Mal am folgenden Morgen. Gegen Ende, als ganz offensichtlich nur noch die letzten offenen Fragen geklärt wurden, fing er an, darüber nachzudenken, womit er seinen Tag Freiheit im Paradies verbringen würde. Im Rückblick erschien ihm das als der Moment, in dem er das Schicksal gereizt haben musste.
    Der Polizist, der bislang der stillere von beiden gewesen war, begann, Lock detaillierte Fragen über die Banken zu stellen, die seine auf den Caymans registrierten Firmen nutzten. Lock nannte sie ihm: zwei auf Grand Cayman, eine auf den Virgin Islands, eine in Bermuda. Dann konzentrierte sich der Polizist darauf, welche ausländischen Banken wiederum diese Banken nutzten, um Geld zu deponieren und zu transferieren. Das war neu für Lock und für Griffin; sie
wussten es beide nicht. Die letzte Frage war, ob nach Locks Wissen irgendwelche seiner Banken Korrespondenzbanken in den USA hätten. Wieder sagte Lock, er wüsste es nicht. Nach einigen letzten Formalitäten waren Lock und Griffin entlassen.
    Vor der Polizeistation schlug Lock spontan vor, dass er und Griffin zusammen etwas essen und ein Bier trinken sollten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal wegen irgendetwas erleichtert gewesen war. Vielleicht würde er sogar seinen

Weitere Kostenlose Bücher