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Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)

Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)

Titel: Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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abgehauen war. In Island war ein Vulkan ausgebrochen, dessen Aschewolke den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegte. Falls jemand hinter mir her war, würde er nicht so schnell nach Finnland gelangen. Mir blieb Zeit, Vorkehrungen zu treffen.

5
    Ich probierte es zuerst mit der einfachsten Lösung meines Wohnungsproblems: Am Flughafen nahm ich den Bus der Linie  615 und stieg an der Kreuzung Mäkelänkatu und Koskelantie aus. Ich hatte keinen Schlüssel zu Frau Voutilainens Wohnung und hatte meine Ankunft auch nicht angekündigt. Die alte Dame besaß zwar ein Handy, das sie aber nur in Notfällen benutzte. Lieber telefonierte sie über den Festanschluss. Da sie auf mein Klingeln nicht öffnete, rief ich an beiden Anschlüssen an, ohne sie zu erreichen, und hinterließ beide Male die Nachricht, dass ich zurückgekehrt sei. Dann ging ich in den Käpy-Grill, um ein Glas Bier zu Rate zu ziehen, obwohl ich genau wusste, dass Alkohol nie gute Ratschläge gab, sondern einen allenfalls zu Dummheiten verleitete. Nach dem zweiten Bier fühlte ich mich so großartig, dass ich beschloss, die erste Nacht im Hotel Torni zu verbringen. Wenn David in Finnland gewesen war, hatte er sich immer dort einquartiert, das Hotel brachte ihn mir also gewissermaßen näher. Vielleicht war das Torni der geeignete Ort, um endlich die Geheimnisse des Briefumschlags zu erkunden.
    Ich bekam ein Zimmer im neunten Stock mit Panoramablick und konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, zu dem Rezeptionisten zu sagen, dass in meinem Zimmer diesmal keine erotischen Szenen ablaufen würden, weil mein Liebhaber verschollen sei. Ich hatte ohnehin ein Einzelzimmer bekommen, aber für David hätte der Platz neben mir im Bett gereicht, wir hätten unter eine Decke gepasst. Im Süden waren der Park an der Alten Kirche und der Turm der Johanneskirche zu sehen, das Meer schien Helsinki von allen Seiten zu umgeben, und nach den kleinen toskanischen Dörfern wirkte die Stadt wie eine Metropole.
    Ich schaute in die Minibar und spielte mit dem Gedanken, mir noch ein Bier zu genehmigen, doch eine innere Stimme mahnte, ich solle Davids Briefumschlag untersuchen, bevor ich zu betrunken war. Ich blickte über das Kaufhaus Sokos hinweg auf den Bahnhof. In der Ferne zeichnete sich der Vergnügungspark Linnanmäki ab. Ich setzte das Kaleidoskop an wie ein Fernrohr und ließ das Stadtbild im Strudel der bunten Glasstücke verschwinden. Die Hakkarainens, unsere Nachbarn in Hevonpersiinsaari, hatten ein Kaleidoskop besessen, das ich als kleines Mädchen manchmal bewundern durfte. Ein eigenes hatte ich nicht bekommen, denn bei Onkel Jari war das Geld immer knapp gewesen und hatte nur für das Notwendigste gereicht.
    Zwischen dem äußeren Glas des Kaleidoskops und dem drehbaren Teil lag ein Zwischenraum, aber dort konnte wohl nichts verborgen sein, denn die Glasstücke bewegten sich ungehindert und waren vollständig zu sehen. Früher oder später würde ich das Ding auseinanderbauen müssen. Ich entschied mich für die Alternative «später» und widmete mich stattdessen dem Umschlag. Den roten Lack, mit dem er versiegelt war, musste ich aufbrechen. Die Nagelschere in meinem Schminkbeutel war dafür genau richtig. Als ich mich gerade an die Arbeit machen wollte, klingelte mein Handy. Ich meldete mich, denn auf dem Display stand «Voutilainen».
    «Hilja, liebes Kind, du bist wieder in Finnland!»
    «Heute angekommen.»
    «Ist alles in Ordnung? Du wolltest doch eigentlich länger bleiben.»
    «Meine Pläne haben sich geändert. Wo bist du?»
    «Auf einem Rentnerausflug in Tuuri und Ähtäri. Wir bestaunen den Dorfladen und die wilden Tiere im Zoo. Hier gibt es sogar Luchse, die magst du doch so gern.»
    «Grüß sie von mir. Kann ich ein paar Tage bei dir wohnen, wenn du zurückkommst?»
    «Von mir aus jetzt gleich. Den Schlüssel hat Oona Nykänen im Erdgeschoss, sie ist mit ihrem Baby fast immer zu Hause. Ich kann sie anrufen und ihr sagen, sie soll ihn dir geben.»
    Ich sagte, ich würde erst am nächsten Tag kommen, wenn sie wieder zu Hause war. Vielleicht wunderte sich Frau Voutilainen über meine Wortkargheit, doch sie äußerte sich nicht dazu. Ich würde mir eine Version der Ereignisse in Italien ausdenken müssen, die ich ihr erzählen konnte. Die nette alte Dame durfte nicht in Gefahr geraten.
    Ich widmete mich wieder dem Briefumschlag. Der rote Lack bröckelte auf den Tisch. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich sowohl den Umschlag als auch das

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