Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
davon aus, dass David nur Schriftfinnisch verstand. «Du bist also wieder in Finnland?»
«Nein», antwortete ich, obwohl ich wusste, dass diese Lüge kurze Beine hatte. Aber ich wollte Rytkönen in Verwirrung stürzen. Ich sah sein straffes Gesicht vor mir und hätte zu gern gewusst, was es jetzt verriet. Verblüffung über Davids Anruf? Oder Angst? War Kass’ Nummer nur für Notfälle reserviert? Cavallo, der Zweite auf Davids Liste, war ums Leben gekommen. Wusste Rytkönen, dass ein Anruf Gefahr bedeutete?
«Aber du solltest diese Nummer doch nur anrufen, wenn du in Finnland bist! Was ist los mit dir? Wohin hast du dich abgesetzt?»
«An denselben Ort wie Cavallo.»
«Cavallo? Ich verstehe nicht ganz. Soll ich feststellen, wer Cavallo ist? Über die üblichen Kanäle?»
«Weißt du etwa nicht, wer Cavallo ist? Mit wem spreche ich denn?»
«Was soll der Quatsch? Hast du vergessen, was wir abgemacht hatten? Wenn du nichts Vernünftiges mehr zu sagen hast, machen wir jetzt Schluss. Oder fühlst du dich einsam? Wird dir die Bürde doch zu schwer?»
Ich hatte gehofft, dass Rytkönen seinen vermeintlichen Gesprächspartner beim Namen nennen würde, da er ja auch seine eigene Identität preisgegeben hatte. Anonymität lieferte mir keinen Beweis. So war ich gezwungen, ein Risiko einzugehen.
«Mit wem glaubst du zu sprechen?» Meine Worte wurden von einem Hustenanfall unterbrochen, der ganz und gar echt war, denn das heisere Sprechen strengte meine Stimmbänder an.
«Lass den Blödsinn, Stahl.»
«Handys können geklaut werden. Und spreche ich nicht auf einmal ziemlich gut Finnisch, ganz ohne estnischen Akzent?»
Am anderen Ende herrschte Stille. In meinem Kopf hingegen ratterte es so laut, dass ich beinahe fürchtete, Rytkönen könnte es hören. War er womöglich doch nicht Kass? Man konnte Handys stehlen, Telefonnummern ermitteln und Anrufe umschalten. Wenn das geschehen war und sich Rytkönen sorglos mit seinem richtigen Namen meldete, wurde das Gespräch höchstwahrscheinlich aufgenommen. Ich musste mir blitzschnell etwas ausdenken, um noch größeres Durcheinander zu stiften.
«Ich habe David Stahls Handy», fuhr ich fort. «Stahl selbst kann im Moment leider nicht anrufen. Ihr solltet ihn suchen, bevor er noch etwas anderes verliert als sein Handy.»
Rytkönen legte wortlos auf. Ich schaltete das Handy aus, streifte die Handschuhe über und entfernte den Prepaid-Chip, zertrat ihn unter dem Absatz und warf ihn in den nächsten Abfalleimer. Ringsum lagen leere Pappschachteln von Doppel-Sixpacks. Ich legte ein paar davon über den Chip im Abfalleimer und warf noch einige leere Zigarettenschachteln dazu. Dabei rechnete ich die ganze Zeit damit, eine Polizeisirene zu hören. Rytkönen würde sicher nicht lange brauchen, um festzustellen, aus welchem Teil der Stadt der Anruf gekommen war. Ich trug eine Schirmmütze, eine Sonnenbrille und Sportkleidung – eine knielange türkisfarbene Hose und ein Sporthemd in gleicher Farbe – sowie eine Gürteltasche, die mein Handy, ein wenig Geld und die Handschuhe enthielt. Da ich eindeutig wie eine Frau aussah, würde man mich wohl nicht ohne weiteres verdächtigen, Rytkönen angerufen zu haben.
Als ich die Tehtaankatu erreichte, sah ich das erste Polizeifahrzeug. War es wirklich meinetwegen unterwegs, oder fuhr es nur zufällig vorbei? Von wie vielen Überwachungskameras war ich während des Telefonats gefilmt worden? Hoffentlich war Rytkönen dumm genug, an seinem ersten Eindruck festzuhalten, der Anrufer sei David oder, wenn nicht er, dann doch jedenfalls ein Mann. Die Schirmmütze und die Sonnenbrille hatten meine Gesichtszüge verdeckt, und beim Sprechen hatte ich mich wie Reiska bewegt. Laitio würde sich allerdings nicht täuschen lassen, falls er die Aufnahmen zu Gesicht bekam.
Ich konnte nur abwarten. An der Ecke vor der Johanneskirche überholte mich das Polizeifahrzeug. Ich stieg in die Straßenbahn und beschloss, mich vorläufig von Rytkönen fernzuhalten. Einen Augenblick lang bereute ich, Davids Handy zerstört zu haben.
Von David gab es keine Spur mehr. Dennoch erwartete ich, eine Nachricht von ihm vorzufinden, sooft mein Handy eine neue SMS ankündigte oder ich meine Mails las. Von Zeit zu Zeit rief ich erwartungsvoll bei Frau Voutilainen an und fragte, ob Post für mich gekommen sei. Ihr Nein klang von Mal zu Mal mitleidiger.
Da sich auch Laitio nicht mehr bei mir gemeldet hatte, rief ich ihn scheinbar harmlos an und erkundigte mich nach seinem
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