Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Abendschicht übernehmen, das Sans Nom war ab sechs Uhr ausgebucht. Ich schlief bis zum Mittag. Bevor ich zur Arbeit ging, rief ich bei den Hakkarainens an, doch sie meldeten sich nicht. Sie besaßen immer noch kein Handy.
Am Sonntag nach der Melkzeit hatte ich Glück. Matti meldete sich und erkundigte sich eingehend nach meinem Befinden, bevor er Maija an den Apparat holte. Ich lobte ihren Tee und ihr Gebäck und plauderte über die nach dem trockenen Sommer erstaunlich gute Pilzernte, bevor ich mir ein Herz fasste und nach dem Schmuck fragte.
«Der Schmuck deiner Mutter? Das weiß ich nicht. Deine Eltern haben ja in Lappeenranta gewohnt, als es passiert ist. Ich habe keine Ahnung, was aus ihren Sachen geworden ist.»
«Aber ihr wart doch bei der Beerdigung, ich habe euch auf den Fotos gesehen.»
«Ja, weil der Vater deiner Mutter Mattis Vetter war. Wir sind zur Beerdigung gekommen, um deine Oma zu stützen, und ich habe außerdem beim Backen geholfen, ich war damals eine ganz gute Festköchin. Deine Mutter haben wir ja kaum gekannt, und deinen Vater noch weniger, aber als Jari dann ein Haus suchte, in dem er mit dir wohnen konnte, fiel Matti ein, dass die Hütte in Hevonpersiinsaari zum Verkauf stand. Für ein Kind war es wohl nicht ganz das Richtige, so abgelegen.»
«Ich fand es wunderschön», antwortete ich leise. Dann erkundigte ich mich nach den Tieren und erfuhr, dass sich zwar immer noch ein Luchs in der Gegend herumtrieb, die Kühe der Hakkarainens aber unbehelligt gelassen hatte.
«Wo habt ihr das Album von der Beerdigung eigentlich aufbewahrt?», fragte ich schließlich.
«Erinnerst du dich nicht? Im Bücherregal deines Onkels, zwischen ein paar anderen Alben. Die Fotos von dir als Kind sind noch da, möchtest du die nicht auch?»
«Ich hole sie irgendwann ab, wenn ich Zeit habe.» Ich wusste, dass es sinnlos war, Maija nach Einbruchspuren und unbekannten Besuchern zu fragen. Die provisorische Alarmanlage an der Hütte hatte ich wieder abgebaut, weil sie womöglich von Waldtieren ausgelöst worden wäre. Ich hatte David oft von meiner Kindheit in Hevonpersiinsaari erzählt und ihm den Ort auf der Karte gezeigt. Es wäre ein Kinderspiel für ihn gewesen, die Hütte zu finden und dort einzubrechen. Aber warum und wann hätte er das tun sollen? Nein, es musste eine andere Erklärung geben.
Während ich zur Arbeit radelte, dachte ich über den Schmuck nach. Die naheliegendste Lösung war, dass meine Großmutter ihn bekommen hatte. Vielleicht hatte sie ihn verkauft. Oder Mutters Freundinnen hatten sich ein Schmuckstück aussuchen dürfen. Ich selbst trug äußerst selten Schmuck, aber in meinem Testament hatte ich verfügt, dass sich meine Freunde ein Erinnerungsstück aus meinen persönlichen Besitztümern aussuchen durften. Aber meine Mutter hatte sicher kein Testament gemacht. Bei ihrem Tod war sie erst sechsundzwanzig Jahre alt gewesen; sicher hatte sie nicht damit gerechnet, so jung sterben zu müssen. Onkel Jari hatte allerdings ein paarmal angedeutet, dass mein Vater an jenem schrecklichen Tag nicht zum ersten Mal gewalttätig geworden war. Auf Blutergüsse und geschwollene Handgelenke angesprochen, hatte meine Mutter ihren Bruder mit der klassischen Erklärung abgespeist, sie sei ausgerutscht und gegen eine Tür geprallt. Bei mir würden derartige Ausreden niemals ziehen. Mike Virtue hatte uns beschworen, bei Gewalttätigkeit kein Auge zuzudrücken.
«Wenn wir nicht einschreiten, machen wir uns mitschuldig. Natürlich sollte man genau abwägen, was man selbst bewerkstelligen kann und was man an die zuständigen Stellen delegieren muss. Aber Gleichgültigkeit ist ein Verbrechen.»
Am Sonntag kurz nach Mittag versuchte ich mein Glück bei allen Frauen namens Tarja Kinnunen, die laut Telefonbuch in der Provinz Uusimaa lebten. Keine von ihnen hatte je in Tuusniemi gewohnt, die meisten hatten nie von dem Ort gehört. Ich war so frustriert, dass ich gar nicht erst anfing, die Tiina Turpeinens und Päivi Väänänens durchzutelefonieren. Stattdessen besorgte ich mir bei der gebührenpflichtigen Adressauskunft die Kontaktdaten aller Frauen mit diesen Namen. Eine Päivi Väänänen-Huttunen wohnte in Kuopio in Ostfinnland, das klang vielversprechend. Am Handy meldete sie sich jedoch nicht; vielleicht schreckte sie davor zurück, das Gespräch anzunehmen, weil meine Nummer nicht angezeigt wurde. Aber ich brachte es auch nicht fertig, in einer SMS zu erklären, wer ich war.
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