Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
lockte mich Kari Suurluoto. Ich hatte einige Male die tiefe Stimme meines Vaters gehört, der bei seinen Anrufen geklungen hatte, als sei er von seinen Medikamenten benommen. Hatte Kari eine ähnliche Stimme? Das konnte ich nur herausfinden, indem ich ihn anrief.
Ich zauderte. Unschlüssig betrachtete ich die Passanten an der Ecke der Yrjön- und der Eerikinkatu. Im Theater fand offenbar eine Matinée statt, denn die meisten strömten dorthin. Monika besaß ein Abonnement für das kleine Theater und hatte mich ein paarmal mitgenommen. War die Waschmaschine schon durchgelaufen? Ich musste die Wäsche auf den provisorischen Ständer im Wohnzimmer hängen, bevor ich ins Sans Nom fuhr. Mit allen Mitteln schob ich den Anruf bei Kari Suurluoto vor mir her. Vielleicht war er ein anderer Kari oder hatte den Kontakt zu meinem Vater so unwiderruflich abgebrochen wie ich.
Endlich zwang ich mich, die Nummer zu wählen. Der Angerufene meldete sich so schnell, als hätte er das Telefon in der Hand gehalten.
«Suurluoto.»
«Hier ist Hilja … ehemals Suurluoto. Keijos Tochter.»
Der Mann schwieg lange. Aus dem Brummen im Hintergrund schloss ich, dass er im Auto saß. Wahrscheinlich hatte er eine Freisprechanlage und deshalb so schnell reagiert.
«Hilja?», sagte er schließlich. «Du bist natürlich schon erwachsen. Ich dachte, du lebst im Ausland.»
«Jetzt bin ich in Finnland.»
«Du hast mich in einem ungünstigen Moment erwischt, ich habe gerade den Wagen voll. Was willst du?»
«Über meinen Vater reden. Du warst als Einziger von seinen Verwandten bei der Beerdigung meiner Mutter.»
Wieder langes Schweigen, im Hintergrund kicherten Mädchen.
«Wie gesagt, im Moment passt es nicht so gut. Kannst du mich in einer halben Stunde wieder anrufen?»
Um die Zeit musste ich schon zur Arbeit. Schließlich vereinbarten wir, am Montagmorgen nach zehn Uhr zu telefonieren. Suurluoto sagte, dann sei er am Arbeitsplatz, brauche aber nur Berichte zu schreiben. Was er beruflich machte, wusste ich immer noch nicht.
Nachdem ich ihn endlich erreicht hatte, fiel es mir schwer, fast einen ganzen Tag warten zu müssen. Monika hatte mit dem Lieferwagen frisch geerntete Kartoffeln geholt. Ich kam gerade passend zum Sans Nom, um ihr beim Ausladen zu helfen. Veikko und sein Freund warteten an der Hintertür auf Brotreste und Kartoffelmus vom vorigen Abend.
«Sind die Einbrecher geschnappt worden?», fragte Veikko.
«Die Polizei hat nichts von sich hören lassen.»
Veikko schüttelte den Kopf. «Magst du einen Schluck?», fragte er dann und hielt mir seine Schnapsflasche hin. Ich lehnte dankend ab und versprach den Männern frischen Kaffee zum Aufwärmen. In der Nacht hatte es Frost gegeben, und in der Zeitungskiste wurde es allmählich kalt.
«Das ist ein guter Platz, das Bürohaus hier. Keiner scheucht einen fort. Wo Leute wohnen, ist es anders, da rufen sie die Polizei. Dabei tun wir doch nichts Böses. Die Zeitungen sind Abfall, die braucht keiner mehr. Wir nehmen niemandem was weg», erklärte Veikko und kaute mit den vier Zähnen, die ihm noch verblieben waren, auf seinem Brot herum.
«Aber was machen wir, wenn es die Zeitungen nur noch im Internet gibt? An Bits kann sich kein Obdachloser wärmen», warf sein Kumpel ein.
«So schnell geht das nicht. Bis dahin sind wir schon tot.» Veikko lächelte zufrieden. «Wie viele Jahre haben sie dir versprochen? Mir haben sie beim letzten Entzug gesagt, ich könnte jederzeit abkratzen, wenn ich nicht sofort mit dem Trinken aufhöre. Jeder Tag kann der letzte sein, hörst du? So ist das.»
Es kann für jeden der letzte sein, dachte ich, während ich Kartoffeln in den Schäler füllte. Wir ertragen diesen Gedanken nicht, deshalb verdrängen wir ihn. Ich hatte einige Male gespürt, dass der Sensenmann mir auf den Fersen war, und gerade noch vermeiden können, ihm ins Gesicht zu blicken. Ich redete mir ein, dass ich ihn nicht gefürchtet hätte, wusste aber, dass niemand vorhersagen konnte, wie er im Ernstfall reagieren würde. Zumindest würde ich mich bis zuletzt wehren, ich würde keine leichte Beute sein.
Als es neun Uhr wurde und auch die Letzten, die einen Tisch reserviert hatten, eingetroffen waren, kam eine der Kellnerinnen, die hübsche dunkelhaarige Helinä, zu mir und sagte, im Saal werde nach mir gefragt. Ich blickte auf den Monitor und sah, dass der Mann, der mit einem Cocktailglas in der Hand im Wartesessel an der Tür saß, kein anderer war als Juri Trankow. Immerhin war es
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