Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
Absicht, unser Alkohollager zu leeren. Es musste einen anderen Grund geben, und ich hatte die böse Ahnung, dass dieser Grund Hilja Ilveskero hieß. Hatte Rytkönen herausbekommen, dass ich bei der Nummer von Kass angerufen hatte, die eigentlich nur David kennen sollte?
Jouni rief mich in die Küche, er sagte, es herrsche Notstand. Die im Hauptstadtgebiet grassierende Grippe hatte zwei Leute vom Küchenpersonal außer Gefecht gesetzt.
Die ganze Woche über schuftete ich als Küchenhilfe, denn die Grippe legte der Reihe nach das ganze Personal flach, auch Monika und Jouni – glücklicherweise nicht gleichzeitig. Die Einzige, die gesund blieb, war ich. Ich sah jeden Morgen in den nächtlichen Aufnahmen der Überwachungskameras nach, ob sich ein Typ von Rytkönens Aussehen auf dem Hof herumgetrieben hatte, doch er ließ sich nicht mehr blicken.
Päivi Väänänen-Huttunen hielt ihr Versprechen und rief mich in der nächsten Woche an, kurz bevor ich zur Abendschicht aufbrechen musste. Sie wirkte aufgeregt.
«Ich habe es nicht fertiggebracht, lange in den Tagebüchern zu lesen, sie kommen mir so kindisch vor! Unglaublich, worüber man sich in dem Alter Sorgen gemacht hat. Eine Drei in der Englischarbeit war ein Weltuntergang! Aber immerhin habe ich hier und da etwas über Anneli gefunden. Sie war immer so fröhlich. Ich habe ihre gute Laune bewundert, sie vielleicht auch ein bisschen darum beneidet. Die Jungen mochten sie, weil sie so unkompliziert war.»
«Hat sie geflirtet?»
«So wenig wie wir anderen. Damals, Anfang der Siebziger, mussten sich Mädchen noch keuscher geben als heute und den Jungen die Initiative überlassen. Aber die Tagebücher sind nicht so wichtig. Ich habe Tiina Turpeinen angerufen, sie heißt inzwischen Mäkelä. Tiina sagt, Anfang des Jahres sei ein Polizist bei ihr gewesen und habe sie nach deiner Mutter ausgefragt. Sie hat überhaupt nicht verstanden, wieso die Sache wieder aufgerollt wird, obwohl dein Vater doch verurteilt wurde und der Fall längst aufgeklärt ist. Und der Polizist war auch irgendwie seltsam, aber er hatte einen echt aussehenden internationalen Polizeiausweis.»
«Einen internationalen Polizeiausweis? Hast du Tiina Mäkeläs Telefonnummer? Wo wohnt sie?»
Päivi Väänänen-Huttunen gab mir eine Handynummer und sagte, Tiina wohne in Siuntio gegenüber der Kirche. Ich bedankte mich rasch und tippte die Nummer so eilig ein, dass ich mich zweimal verwählte. Erst beim dritten Mal klappte es, doch Tiina Mäkelä meldete sich nicht. Also hinterließ ich ihr eine Nachricht, und sie rief schon nach zwei Minuten zurück.
«Bei unbekannten Anrufern gehe ich nie dran», sagte sie als Erstes. «Wie schön, von dir zu hören, Hilja! Ich habe oft an dich gedacht, vor allem, nachdem im Frühjahr dieser Polizist hier war. Wie geht es dir denn?»
Obwohl es mir schwerfiel, banalen Smalltalk zu treiben, berichtete ich kurz, dass ich in Helsinki in einem Restaurant arbeitete und in der Innenstadt wohnte. Dann bat ich sie, mir von dem Polizisten zu erzählen, der sie aufgesucht hatte.
«Es war ein großer Mann, der gebrochen Finnisch sprach.»
«Erinnerst du dich an seinen Namen?»
«Vielleicht habe ich ihn im Kalender notiert, eine Visitenkarte hat er mir nicht gegeben. Warte mal …» Ich hörte, wie das Handy irgendwo abgelegt wurde. «Hier. Ich kann meine eigene Schrift nicht lesen. Der Nachname fängt jedenfalls mit einem S an, vom Vornamen steht hier nur der erste Buchstabe … Könnte ein P sein.»
Ich war mir nahezu sicher, dass es sich um ein D handelte. Da ich am nächsten Vormittag freihatte, fragte ich Tiina Mäkelä, ob sie dann Zeit für ein Treffen hätte.
«Ich treffe mich gern mit dir, aber vormittags geht es nicht, da muss ich arbeiten. Die Schule ist um drei Uhr aus. Passt es dir dann?»
Ich beschloss, es passend zu machen, und versprach, um halb vier bei Tiina Mäkelä vor der Tür zu stehen. Als ich ins Sans Nom kam, herrschte wieder Chaos. Monika, die so gut wie nie die Nerven verlor, flippte aus, als ich erklärte, ich müsse am nächsten Nachmittag nach Siuntio fahren.
«Wir haben ein vorbestelltes Mittagessen, das bis drei Uhr dauert! Es geht nicht ohne dich. Mohammed und Alex sind krank, und Helinä läuft dermaßen die Nase, dass sie sich nicht vor den Gästen blickenlassen kann.»
«Diesmal muss es aber ohne mich gehen!»
«Monika, lass dir nicht dauernd von Hilja auf der Nase rumtanzen!», brüllte Jouni im Hintergrund.
«Halt du das Maul!
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