Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
wusste, wo er sich aufhielt. David hatte mir oft von seinen Angehörigen erzählt: von seinem Vater, der halb Russe und halb Este war, von seiner Mutter, die aus Finnland stammte, aus Tammisaari, und nach Tartu gegangen war, um Russisch zu studieren. Von seinen Schwestern, die etwa zehn Jahre jünger waren als er. Sie alle wohnten weiterhin in Tartu. David hatte ihnen doch sicher ein Lebenszeichen gegeben? Warum sollte ich mich nicht mit ihnen in Verbindung setzen und mich als Bekannte Davids ausgeben, die über sein Verschwinden besorgt war? Ich erinnerte mich an die Namen der Eltern, Anton und Eva, die Schwestern hießen Siri und Johanna. Siri war verheiratet, und ich wusste nicht, ob sie den Namen ihres Mannes angenommen hatte.
Oder sollte ich lieber noch einmal Bruder Gianni kontaktieren? Vielleicht wusste er etwas. Selbst Klöster hatten wohl heutzutage Internetverbindung, zumindest aber ein Telefon. Bruder Gianni verstand sich aufs Schweigen. Aber irgendetwas musste ich unternehmen. Es kam mir vor, als wäre David mir plötzlich so nahe wie seit langem nicht mehr, als dränge er darauf, dass ich seinen Aufenthalt ermittelte.
Verflixt noch mal, warum war ich so auf David fixiert? Beinahe hätte ich den Mercedes übersehen, der mir die Vorfahrt nahm. Ich trat voll auf die Bremse und wich auf den Seitenstreifen aus. Es gelang mir, den Wagen zum Stehen zu bringen, bevor er den Acker pflügte, doch ich musste eine ganze Weile kurbeln, um ihn wieder auf die Straße zu lenken. Der Mercedes war längst davongebraust. Ich ärgerte mich über alle Maßen.
Als ich zurückkam, saßen Veikko und sein Kumpel hinter dem Restaurant, tranken Kaffee und aßen karelische Piroggen, die vom Vortag übrig geblieben waren.
«Na, Mädchen, was bringst du denn da?», riefen sie, als ich ausstieg und mich anschickte, den Wagen zu entladen.
«Kohlrüben, Weiße Rüben, Möhren und Rote Bete.»
«Willst du Weihnachtsheringssalat machen?», fragte Veikko.
«Dafür ist es noch zu früh, oder?» Veikkos Kumpel sah mich um Bestätigung heischend an. Als ich nickte, fuhr er fort: «Du bist sozusagen die Sicherheitsfrau von dem Restaurant hier?»
«Na ja, sozusagen, obwohl das Sans Nom so jemanden eigentlich nicht braucht.»
«Scheint mir aber doch. Letzte Nacht ist hier ein komischer Typ rumgeschlichen. Dem Mädchen, das uns den Kaffee gebracht hat, wollte ich nichts davon erzählen, die würde sich nur erschrecken, so zart, wie sie ist. Du scheinst ein anderes Kaliber zu sein.»
«Ich bin nicht so leicht zu erschrecken. Was war das für ein Typ?»
Veikkos Kumpel aß in aller Ruhe seine Pirogge auf, bevor er weiterredete. Als ihm Eibutter auf die karierte Jacke kleckerte, wischte er sie mit einem überraschend sauberen Taschentuch ab.
«Ich musste heute Nacht pi-»
«Sprich nicht so vor Frauen!», unterbrach ihn Veikko und holte mit der Hand, in der er seine Tasse hielt, so schwungvoll aus, dass der Kaffee auf den Asphalt schwappte.
«Immer mit der Ruhe, Veikko. Also, ich musste aufstehen, um mein Geschäft zu verrichten. Als ich die Kiste öffnete, habe ich einen Mann gesehen, der auf dem Hof rumlief und das Haus fotografierte. Er hat genau darauf geachtet, dass er nicht von der Überwachungskamera erfasst wird.»
«Wie sah er aus?»
«Ich habe ihn nur von hinten gesehen. Er war ziemlich klein und sehr breit. Dunkler Mantel, kein Hut. Teure Schuhe.»
Die Beschreibung kam mir bekannt vor. Gerade so hatte der Mann ausgesehen, der in der vorigen Nacht unter meinem Fenster entlanggegangen war. Um Gewissheit zu haben, hätte ich allerdings die Aufzeichnungen der Überwachungskamera gebraucht.
«Hattest du den Eindruck, dass er einen Einbruch plant?»
«Na, jedenfalls hat er sich ganz genau angeguckt, wo die Kameras hängen.»
«Danke.» Ich nahm einen Zwanziger aus dem Portemonnaie und gab ihn Veikkos Kumpel. Davon konnte er für beide etwas zu trinken kaufen. Als ich mit dem Ausladen fertig war, ging ich in das Büro des Restaurants, wo die Monitore standen. Ich speicherte die Dateien der vorigen Nacht und ließ die Kameras weiter die Gegenwart aufzeichnen. Dann begann ich mit der Suche.
Die Gestalt hatte sich bemüht, die Kameras zu meiden. Dennoch sah ich genug Momentaufnahmen, die meine Theorie, es handle sich um Rytkönen, zumindest nicht widerlegten. Die Frage war nur: Warum? Weshalb sollte sich ein Kommissar der Zentralkripo für das Sicherheitssystem eines Restaurants in Ruoholahti interessieren? Er hatte wohl kaum die
Weitere Kostenlose Bücher