Der Löwe
Khalil und womöglich auch alte KGB-Kumpel angeschissen hatte. Aber was seine Vergangenheit anging, konnte er sich nicht so richtig wohlfühlen, deshalb gab es noch einen anderen Grund für die Schlösser und Riegel an der Tür.
»Nehmen wir mal an, Khalil weiß, dass Sie der Inhaber des Svetlana sind und dass Sie eine Frau und ein Apartment an der Brighton Twelfth Street haben«, sagte ich. »Sie könnten davonlaufen,
Sie könnten sich verstecken, aber Sie können auch hier sitzen und auf ihn warten, und ich werde Leute mit Ihnen warten lassen.«
»Hm, ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er. »Unterdessen sollten Sie und Ihre Organisation allerdings über andere Möglichkeiten nachdenken, wie Sie ihn fassen – oder töten.«
»Ich glaube, Sie kennen ihn besser als die FBIler«, wandte ich ein.
Er dachte einen Moment lang nach, dann sagte er: »Er wird schwer zu finden sein. Aber er wird Sie finden.«
»Boris, das ist mir klar. Ich verstecke mich nicht. Die Frage ist, wie finde ich ihn?«
Boris lehnte sich zurück und zündete sich eine weitere Zigarette an. Er starrte ins Leere und sagte eher zu sich selbst: »Trotz all ihrer Fehler hat die Sowjetunion die Amerikaner nie unterschätzt. Wenn überhaupt, dann haben wir euch eher überschätzt. Khalil hingegen stammt aus einer Kultur, in der man den Westen und vor allem die Amerikaner unterschätzt. Und das ist möglicherweise sein Schwachpunkt.« Er dachte einen Moment lang nach, dann fuhr er fort. »Er macht sich nichts aus Geld, Frauen, Komfort … er hat keine Laster, und er meint, diejenigen, die welche haben, sind schwach und verdorben.«
Wieder dachte er kurz nach und sagte: »Man nennt ihn den Löwen wegen seines Mutes, seiner Gerissenheit, seiner Schnelligkeit und seiner Fähigkeit, Gefahr zu spüren. Aber was Letzteres betrifft, übersieht er oft Hinweise auf eine Gefahr, weil er sich für stark hält – körperlich, geistig und moralisch – und glaubt, seine Feinde wären schwach, dumm und verdorben.« Er schaute mich an und sagte: »Ich habe ihn deswegen schon einmal ermahnt, aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, ihn ein zweites Mal zu ermahnen.«
Boris war in Schwung gekommen, als er sich über seinen Schüler erging, deshalb ließ ich ihn reden.
Er fuhr fort: »Khalil hatte einen Mentor, einen alten Mann namens Malik, der so etwas wie ein Mystiker war. Malik hat ebenso wie ich versucht, Khalil zur Vorsicht anzuhalten, aber Malik ist auch davon überzeugt, dass Khalil gesegnet ist – dass er über besondere Kräfte verfügt, über einen sechsten Sinn für Gefahr, und dass er spürt, wenn sein Opfer in der Nähe ist. Das ist natürlich Unsinn, aber Khalil hat es geglaubt, und deshalb macht er Dummheiten, scheint dabei aber trotzdem davonzukommen, was ihn wiederum in seinem unbesonnenen Verhalten bestärkt. Vielleicht geht seine Glückssträhne zu Ende.«
Nicht dass man etwas davon merken würde, aber ich sagte: »Vielleicht.« In Wirklichkeit waren die paar Mörder, denen ich begegnet war und die gemeint hatten, Gott stünde in ihrer Ecke, ein Problem gewesen; sie waren mit Sicherheit nicht von Gott gesegnet, aber sie dachten es, und dadurch wurden sie unberechenbar und gefährlicher als der übliche beknackte Mordbube.
Boris zog an seiner Zigarette und sagte: »Er war ein ausgezeichneter Schüler, hat sehr schnell gelernt und ist sehr intelligent. Und er war hochmotiviert – aber was ihn motiviert hat, war der Hass.« Er schaute mich an und sagte: »Wie Sie wissen, haben die Amerikaner seine ganze Familie getötet.«
Ich erwiderte nichts.
»Hass trübt das Urteilsvermögen«, stellte Boris richtig fest.
Wieder ging ich nicht darauf ein, aber ich dachte über dieses merkwürdige Paar nach – Boris Korsakov und Asad Khalil: Lehrer und Schüler von entgegengesetzten Enden des Universums. Ich war mir sicher, dass Boris gute Arbeit geleistet hatte, als er seinen jungen Protégé das Töten und Entkommen gelehrt hatte, aber am Ende des Unterrichts war Khalil noch die gleiche gestörte Person, die er am Anfang gewesen war.
Boris fuhr fort: »Er ist das, was man als Einzelgänger bezeichnet. Er braucht keine Freunde, keine Frauen, nicht einmal Kollegen, doch er wird Menschen benutzen und sich ihrer dann
entledigen. Wie findet man so einen Mann? Nun, wie ich schon sagte, Sie werden ihn nicht finden – er wird Sie finden. Aber wenn er es tut, begeht er wahrscheinlich eher als die meisten Profikiller einen Fehler – einen
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