Der Lord ihres Herzens
sagte er schlicht. „Ich habe mich noch nicht entschieden.“
5. Kapitel
Jane stellte die Kerze in sicherer Entfernung zu Lukes Bett ab, um ihn nicht zu stören. Als sie durch die Dunkelheit zu ihm sah, entdeckte sie, dass Luke die Augen weit aufgerissen hatte und sie beobachtete.
„Es ist schon spät“, sagte sie leise. „Du solltest längst schlafen.“
„Ich kann nicht“, flüsterte er. „Du hast vergessen, mir meine Gutenachtgeschichte vorzulesen.“
Ach herrje. „Liebling, das tut mir so leid. Heute war so schrecklich viel los.“
Sie hatte es nicht vergessen. Aber die letzten Gäste hatten sich erst spät zurückgezogen. Danach hatte sie sich um Lady Endicott kümmern müssen, die an Krämpfen litt - an denen sicherlich ihr nichtsnutziger Neffe schuld war. Am Ende war es ihr gelungen, sich von der Countess loszureißen, nur um festzustellen, dass es schon eine Stunde nach Lukes Schlafenszeit war.
Nach ihrem nervenaufreibenden Gespräch mit Constantine Black hatte sie sich davongestohlen, um nach Luke zu sehen. Sie hatte erwartet, ihn schlafend vorzufinden, doch die letzten Tage hatten auch seine kleine Welt gehörig durcheinandergewirbelt. Es war kein Wunder, dass er nicht zur Ruhe kam.
Das bestätigte Jane in ihrem Entschluss, Luke nichts von Constantines Vormundschaft zu erzählen, bevor sie das Problem zu ihrer Zufriedenheit gelöst hatte. Warum sollte sie den kleinen Kerl beunruhigen? Nicht einmal Constantine konnte so herzlos sein, sie sofort voneinander zu trennen. Zwischenzeitlich würde sie bis zum Äußersten gehen, um den neuen Lord Roxdale dazu zu bringen, ihren Plänen zuzustimmen.
Sanft strich sie Luke das lockige Haar aus der Stirn und fuhr ihm dann mit der Fingerspitze über die Augenbrauen. Würde es ihn beruhigen, wenn sie ihm etwas vorlas, oder würde es ihn nur noch mehr aufregen?
„Bitte!“ Er bemühte sich nach Kräften, seelenvoll dreinzublicken, doch es gelang ihm nicht, dem Lausbuben. „Ich muss unbedingt wissen, was mit Sir Ninian passiert ist.“
Sie versuchte nicht einmal, dem flehenden Blick zu widerstehen. „Also schön. Aber nur zehn Minuten, hörst du?“ Jane ging zum Bücherregal, um nach Sir Ninians Abenteuern zu suchen.
„Ah, hier haben wir es ja“, sagte sie und zog das Buch heraus. „Weißt du noch, wo wir aufgehört haben?“
„Er sollte gerade in Öl gekocht werden“, erklärte Luke mit unverhohlenem Entzücken.
Sie lachte. „Genau.“ Sie schlug das Buch an der Stelle auf, die sie mit einem grünen Band markiert hatte, und begann zu lesen.
Der arme Sir Ninian! Cecily, das kleine Biest, hatte die spannende Abenteuergeschichte noch zu Schulzeiten niedergeschrieben. Der Held der Geschichte sollte eigentlich Sir Ninian Trinian sein, doch er musste ständig von der findigen und tapferen Tochter des Gastwirts gerettet werden. Ihr Cousin Andrew war von Cecilys Begabung begeistert gewesen und hatte das Manuskript für die Verwandtschaft drucken und binden lassen.
Als Jane merkte, dass Luke für Märchen allmählich ein wenig zu alt wurde, hatte sie die Bibliothek durchsucht nach etwas, was einem Knaben in seinem Alter gefallen könnte. Sie hatte kaum etwas gefunden. Ihre eigene Sammlung an Liebesromanen schien auch nicht geeignet.
Und dann war ihr Cecilys verrücktes Werk wieder eingefallen. Wenn etwas einen Jungen wie Luke dazu verführen könnte, Freude am Lesen zu finden, dann waren es diese urkomischen Abenteuer. Jane hatte die Geschichten jahrelang nicht mehr gelesen, war davon aber bald ebenso sehr gefesselt wie Luke. Cecilys schriftstellerische Gabe war selbst schon im Alter von fünfzehn Jahren offensichtlich.
Jane warf Luke beim Lesen einen flüchtigen Blick zu. Sie sah, dass ihm die Lider schwer wurden. Sie flatterten ein wenig, während er gegen den Schlaf ankämpfte. Jane las mit gesenkter Stimme, bis Luke endgültig die Augen zufielen. Ihre Stimme verklang, als Lukes tiefer Atem ihr verriet, dass er eingeschlafen war.
Sie legte das grüne Band zwischen die zuletzt gelesenen Seiten und stellte das Buch zurück ins Regal.
Dann beugte sie sich über Luke und küsste ihn auf die hinreißend blütenzarte runde Wange. Der kleine Junge kuschelte sich mit einem winzigen Seufzer in das Kissen, geborgen in dem instinktiven Wissen, dass er geliebt wurde.
Jane spürte einen Stich in ihrem Herzen. Tränen stiegen in ihre Augen. Der Schmerz ballte sich in ihrem Hals zu einem harten, rauen Klumpen.
Sie würde alles für dieses Kind tun.
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