Der Lügner
zum Beispiel ist kein Stein, sondern ein orales Muster vokaler, dentaler und nasaler Geräusche oder ein schriftliches Arrangement aus Tinte auf einer weißen Oberfläche, aber der Mensch tut so, als wäre es wirklich die Sache, auf die er sich bezieht. Immer, wenn er einem anderen Menschen etwas über einen Stein erzählen möchte, kann er das Wort nehmen statt der Sache selbst. Das Wort versinnbildlicht das mentale Objekt des Hörers, und sowohl Sprecher als auch Hörer sind fähig, sich einen Stein vorzustellen, ohne ihnzu sehen. Alle Eigenschaften eines Steins können metaphorisch und metonymisch ausgedrückt werden. ›Ich war wie versteinert, laufe über Stock und Stein, weine zum Steinerweichen, werfe den ersten Stein‹, also egal, worum es geht. Und mehr noch, ein Mensch mag einen Stein betrachten und ihn eine Waffe, einen Papierbeschwerer, eine Türschwelle, ein Juwel, ein Idol nennen. Er kann ihm eine Funktion geben, er kann ihn besitzen.«
»Aber wenn ein Vogel einen Zweig für sein Nest sammelt, tut er doch dasselbe?«
»Vögel sammeln für Nester ungefähr so, wie wir unsere Lungen ein rundes dutzendmal pro Minute ausdehnen, um Luft oder – in unserem Fall – Tabakrauch einzusaugen. Es ist, so jedenfalls informieren mich die Wissenden, ein gänzlich instinktiver Mechanismus. Tiere haben nicht die menschliche Fähigkeit zu lügen.«
»Keats’ negative Fähigkeit?«
»In gewisser Hinsicht ja. In unserem Hirn werden laufend Verknüpfungen hergestellt und gespeichert. Dieses Wort bezeichnet diese Sache, dieser Sachverhalt hat tatsächlich stattgefunden, diese Erfahrung wurde wirklich gemacht: Das Wie und Was aller Dinge ist begründet. So frage ich Sie: ›Was haben Sie gerade getrunken?‹, und Sie antworten: ›Tee mit Zitrone‹, denn Tee mit Zitrone und das, was Sie getrunken haben, sind verknüpft. Wenn Sie absichtlich zu lügen wünschen,
denken
Sie ›Tee mit Zitrone‹ – darum kommen Sie nicht herum, weil die Verbindung da ist –; aber Sie suchen nach einem anderen Getränk und sagen zum Beispiel ›Apfelsaft‹. Jetzt wird eine Verbindung hergestellt zwischen Ihrer letzten Trinkaktion, Tee mit Zitrone, und Apfelsaft. Die stärkste Verbindung besteht aber zwischen der Trinkaktion und dem Tee mit Zitrone, denn sie entsprichtder Wahrheit. Die Verbindung zwischen dem, was Sie getrunken haben, und Apfelsaft existiert zwar, weil Sie sie hergestellt haben. Aber sie existiert nur durch die Verbindung mit dem Tee mit Zitrone. Können Sir mir folgen?«
»Wie ein Panther«, log Adrian.
»An die Einzelheiten einer Lüge erinnert man sich schwerer als an die Wahrheit, weil sie im Gehirn weniger stark verknüpft sind. Die Tätigkeit des Erinnerns ist buchstäblich genau das: die Tätigkeit, die Elemente von etwas neu zu versammeln. Wenn die Elemente Illusion sind, ist es natürlich schwieriger, diese geistige Rekonstruktion vorzunehmen.«
»Ihr Freund Szabó hat also entdeckt, was im Gehirn der Leute vorgeht, wenn sie lügen, und hat eine Art Lügendetektor entwickelt, geht es darum?«
»Nein, nein. Er hat viel mehr geleistet. Er hat einen
Lügendeflektor
entdeckt!«
Adrian sah zu, wie der Rauch seiner Zigarette durch das Seitenfenster des Wagens gesogen wurde. Tief in sich drin hatte er das schreckliche Gefühl, auf dieser Reise irgendwie mehr als ein bloßer Passagier zu sein, mehr als ein Beobachter.
»Ein Lügendeflektor?« fragte er.
»Nehmen wir einmal an, daß alle wahren Sachverhalte im Gehirn durch Pfade verknüpft sind, die man Pfade vom Typ A nennt, und alle unwahren Sachverhalte durch Pfade vom Typ B.«
»Gut.«
»Stellen Sie sich eine Maschine vor, die das Gehirn daran hindert, Verknüpfungen vom Typ B vorzunehmen. Unter dem Einfluß einer solchen Maschine wäre der Betreffende einfach außerstande zu lügen.«
»Und so etwas hat Ihr Freund Szabó ausgeheckt?«
»Das behauptet er.«
Adrian dachte einen Augenblick nach.
»Es gibt Lügen«, sagte er, »die man … die manche Leute so oft erzählen, daß sie am Ende selber daran glauben. Was ist mit denen?«
»Egal, wie sehr Sie bewußt an das glauben, was Sie sagen, Ihr Gehirn kennt die Wahrheit und hat die Verknüpfungen entsprechend vorgenommen. Sie mögen sich zum Beispiel vorstellen, daß Sie im Urlaub auf Sardinien Zeuge wurden, wie eine Bande von zwölf Banditen eine Bank mit Maschinengewehren und Handgranaten überfiel, und daß Sie diese Geschichte all Ihren Bekannten bis zum Überdruß bei jedem Abendessen erzählen,
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