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Der Lügner

Der Lügner

Titel: Der Lügner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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der ganzen verfaulten Welt ein Ende zu setzen. Er drückte Polterneck eine Münze in die Hand.
    »Bringt mir den Knaben!« flüsterte er.
    Polterneck klatschte in die Hände.
    »Flinter!«
    Im Dunkel im hinteren Teil des Zimmers erhob eine Gestalt sich vom Stroh. Es war die Figur eines Knaben, dem Anschein nach nicht älter als vierzehn Jahre, obgleich es in einer Stadt, wo sechsjährige Kinder die Augen und den Gang alter Männer, wahrlich auch dasselbe Leben voller Erfahrungen hinter sich haben und wo zwanzigjährige Halbwüchsige von Unrat und Hunger so vom Wachstum abgehalten werden, daß sie die Gestalt zerbrechlicher Kinder bewahren, Peter unmöglich wurde, das wahre Alter dieses Exemplars zu bestimmen. Dochwar dies auch nicht sein Bestreben, denn seine Augen richteten sich stets auf das Antlitz. Oder auf jenen Teil, wo von Rechts wegen das Antlitz sich hätte befinden sollen. Denn ein Gesicht war es nicht, auf welches sein Blick sich nun richtete. Ein Gesicht, meine Herren und Damen und Kavaliere, hat Augen, oder nicht? Ein Gesicht rühmt sich der Ohren, des Mundes, des Arrangements aller Züge, die riechen und sehen und hören und schmecken, bevor es diesen Titel beanspruchen darf. Daß diese den Gestank der Missetat riechen, die tiefste Scham und Schande sehen, die krankhaftesten Blasphemien hören und nichts als bitterstes Leid schmecken – nie ist das Angelegenheit des Gesichts! Das Gesicht präsentiert diese Sinnesorgane, jedes an seinem Platze, um zu schauen, was sie wollen, und zu lauschen, wo sie wünschen. Welches Angesicht verdient also seinen Namen – meine Herren, die ihr auf goldene Teller schaut, meine Damen, die ihr nach feinsten Parfüms duftet, meine Freunde, die ihr fettes Hammelfleisch schmeckt und die süßen Harmonien einer liebenden Stimme vernehmt – welches Gesicht darf ein Gesicht genannt werden, dem keine Nase entragt? Welche Bezeichnung können wir erfinden, um ein Gesicht zu beschreiben, dessen Nase zur Gänze aufgefressen ist? Ein Gesicht mit einem Loch in der Mitte, wo eine Nase hätte stehen sollen – sei es eine abgehärmte und lange, geschwollene und knollige oder römische und zurückhaltende Nase, sei sie nun einfach oder hübsch –, ein Gesicht, sage ich, mit einem schwarzen Nichts, wo Nasenlöcher und Nasenbein sich der Bewunderung oder dem Abscheu hätten darbieten sollen, das ist kein Angesicht der Bedürftigkeit: Es ist die Visage von Sünde und Wollust, der Anblick von Mangel und Verzweiflung, aber nicht – ich erbitte Euer Wohlwollen,mir zu glauben –, nicht jedoch, und hundertmal niemals, das Antlitz eines Menschenkindes.
    »Flinter! Hol den jungen Joe für den Gentleman runter. Und Flinter! wage nich, auch nur davon zu träumen, ihn zu berühren, oder ich will entzweigehn, wenn dein Kopf nich plötzlich auch der beiden Ohrn ermangelt!«
    Polterneck wandte sich mit nachsichtigem Lächern zu Peter, als wolle er aller Welt sagen: »Gott segne meinen Arsch, wenn ich meinen jungen Knaben nicht mehr Sorge angedeihn lasse, als wie sie verdienen!« Er mußte jedoch den Ausdruck von Degout und Schaudern auf Peters Gesicht erhascht haben, denn hastig flüsterte er eine Erklärung.
    »Die Blattern, Mr. Flowerbuck! Die Blattern sin ne saure Probe, auf die man in unserm Metier gestellt wird. Er warn guter Arbeiter, unser junger Herr Flinter, und das Herz hab ich nich, ihn fortzuschicken, jetzt, wo die Blattern ihm den Riechkolben genommen ham.«
    »Ich sollte doch denken«, sagte Peter, »daß …«
    »Nicht so schnell, Herrgott noch mal«, sagte Gary. »Mir fällt ja gleich das verflixte Handgelenk ab.«
    Adrian hörte auf, durch den Raum zu gehen.
    »’tschuldigung«, sagte er. »Ich wurde mitgerissen. Was hältst du bisher davon?«
    »Bei ›knollig‹ weiß ich nicht.«
    »Hast ja recht. Das prüf ich morgen.«
    »Es ist zwei Uhr morgens, und mir geht gleich die Tinte aus. Ich hau mich hin.«
    »Und wann beenden wir das Kapitel?«
    »Morgen früh.«

 
    Auf einem Raststättenparkplatz an der Autobahn Stuttgart– Karlsruhe leckten sich eine Tweedjacke und ein dunkelblaues Sporthemd von Mark & Spencer die Wunden.
    »Ich faß es einfach nicht«, sagte das Sporthemd. »Ich meine, aus heiterem Himmel, und warum?«
    »Vielleicht sehen sie sich als moderne Wegelagerer«, schlug der Tweed vor.
    »Also der Schmierige im Safarianzug war nicht gerade das, was ich mir unter einem Dick Turpin vorstelle.«
    »Nein«, sagte der Tweed. Er sah das Sporthemd an, das sich abgewandt

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