Der Lüster - Roman
Boden senkte. Ein feiner Wollschal schützte ihre dünnen Schultern vor der Kälte.
»Du hast einen Buckel«, setzte er an.
Sie straffte sich kurz und sank dann kraftlos in ihre ursprüngliche Position zurück. Ärger überkam ihn; doch er verwandelte seinen Drang weise in die langsame Kraft der Geduld:
»Los, gehen wir«, sagte er.
Er nötigte sie fast zu rennen. Schnell ergriff eine gewisse Freude von ihr Besitz, die Schläfrigkeit verschwand.
»Ich werde sterben«, sagte er in beiläufigem Ton, da er nicht länger an sich halten konnte.
Sie erbleichte.
»Nein.«
Virgínia enttäuschte ihn nie … Er taxierte sie neugierig, stellte fest, dass sie getroffen war, lachte laut auf, geringschätzig und ungestüm, und schüttelte sich dann, als spritzte er mit Wasser um sich.
»Ich sterbe dann so …« Er zog ein Totengesicht, doch im selben Augenblick wurde ihm klar, dass seine heftige Anwandlung nachgelassen hatte, und er betrachtete unbeteiligt den Garten. Sie erschrak nicht. Und er wurde allmählich schläfrig, je weiter sie liefen. Sie sprachen nicht, aber vielleicht dachten sie beide in gewisser Weise dasselbe. Ob alle wissen, was ich weiß?, überlegte Virgínia. Denn sie hatte gerade beinahe mit Gewissheit, ohne Erschütterung, ans Sterben gedacht.
Daniel kannte auch ein Spiel, das zunächst ruhig und klar gewesen war, sich dann jedoch in etwas Schreckliches verwandelt hatte, niemand wusste, warum. Er grub ein Loch in den widerstrebenden, von der Sonne ausgedörrten Boden, bis er auf feuchte Erde stieß, neu, bröckelig, aber durchaus geeignet, zu einer einzigen Masse geformt zu werden. Dann hob er eine Grube aus, Virgínia stellte sich hinein. Mit einer ernsten, genauen Lust im Gesicht spürte sie die laue Frische der Erde auf dem Körper, diese weiche Schutzhülle, zart und schwer. Durch die Fußsohlen stieg ein Schauer von Angst auf, ein Raunen, die Erde könne einbrechen. Und aus dem Erdreich krabbelten irgendwelche Falter und flatterten überall an ihr herum.
»Du bist eingeschlossen«, sagte Daniel grob, aber sie lachte leise, ohne sich einschüchtern zu lassen. Nach kurzer Zeit jedoch erschrak sie, während der Wind Gräser bog, Laub übers Feld blies. Und die zwei sprachen nicht mehr darüber, sie versuchten zu vergessen und vergaßen für immer ohne Spur. Er vollführte eine kleine, nach vorne gerichtete Drohgebärde, als mache er sich zum Sprung bereit: Pass auf, Virgínia, gleich springe ich raus! Raus aus der Welt, wollte er damit sagen – und es kostete Mühe, ihr das klarzumachen. Als sie es verstanden hatte, zog ein weißes, bebendes Entsetzen über ihr Gesicht, ließ dann unvermittelt nach, als bliebe es zurück. Daniels Augen glänzten in einer heißen, dunklen und furchtbar aufregenden Lust: Pass auf, Virgínia, gleich springe ich raus! Und er drohte mit dem Sprung, der ihn über die Erde hinausschleudern würde. »Nein, nicht«, sagte sie heiser, ihre Handflächen wurden auf einmal feucht, sie klammerte sich mit eisigen Fingern an die Kleidung des Bruders, spürte die eigenen steifen Bewegungen auf dem groben Stoff. Nie führte er das Spiel zu Ende, es war, als verschonte er Virgínia bis zum nächsten Mal. Sie öffnete die trockenen Lippen zu einem mühsamen, erleichterten Lächeln.
Zu der Zeit ging der Vater früh in den Schreibwarenladen. Kaum brach er in Richtung Ortskern auf, fühlte sich das Haus weniger eng an, ein großer Raum mit ein paar Wänden, denn auf die Mutter brauchte man nicht zu achten, und Esmeralda würde das Zimmer erst zum Mittagessen verlassen. Sie und Daniel. Aber sie war nicht wie Daniel, der so voller Gedanken steckte, die sich nicht erraten ließen, so voller Stolz. Noch nie hatte er sich für etwas entschuldigt, er wusste, das war das Zeichen einer Macht. Zwischen dem Sohn und dem Vater hing eine vorsichtige, verkrampfte Aufrichtigkeit in der Luft. Und er war so stur, dass er schon als kleiner Junge, sobald die Sonne unterging, kein Wort mehr gesprochen hatte, er verstummte tatsächlich mitten im Satz oder in einem Lachen. Dann setzte er sich in eine Ecke, die Augen trübe vor Wut und Trauer. Erst am folgenden Tag beruhigte er sich wieder. Verdrossen fragte man ihn nach dem Grund, und er sagte wie nach einer persönlichen Kränkung:
»Ich mag, wenn es hell ist.«
Ja, er war seit jeher auf eine Weise männlich, die in der Familie für Missstimmung sorgte. Ich will kein Junge sein, sagte er leise und schüttelte sich brüsk, und in seine Augen trat
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