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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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die Wand lehnte, und dabei spürte sie, wie ihr Herz schlug, benommen und brüsk, dieses Gefühl eines Irrtums, der sich nie mehr aufklären würde, eine Unausweichlichkeit, die in der Uhr schlug mit feiner Präzision. Die Lösung bestand in einer raschen Übergabe des Seins, ja, ja, mit geschlossenen Augen, ohne Widerstand. Das hieß tatsächlich Dasein. Dann war das also Dasein – man musste sich das stets wiederholen, und so konnte man leben mit einem gewissen geistesabwesenden Glück, voller Verwunderung. Wie im Mittelpunkt der Dinge nach Freude suchen? sosehr sie sie bei einer fernen, fast erfundenen Gelegenheit in ebendiesem Mittelpunkt gefunden und gelebt haben mochte. Jetzt besaß sie die Verantwortung für einen erwachsenen, unbekannten Körper. Aber die Zukunft würde kommen, kommen, kommen.
    Ihr Bett befand sich über dem einer Blinden. Ein lächelndes und forschendes Gesicht, das außerordentlich lebendig wirkte, intelligent. Lau bot sie ihre Hilfe an, ohne dass es ihr gelungen wäre, mit der Frau mitzufühlen. Die Blinde antwortete mit fester, klarer, feiner Stimme:
    »Wenn ich etwas brauche, sage ich Bescheid.«
    Mit Mühe stieg sie nach oben, zog die Vorhänge zu und bettete sich in der Enge des Abteils. Das Dahinrollen des Zugs vibrierte in ihrem Gehirn und machte es schläfrig; sie schloss tief die Augen.
    Möglicherweise schlug sie sie langsam auf, viel später, aber sie öffneten sich wie im selben Moment … Es war dunkle Nacht, der Zug raste dahin. Der Vorhang bewegte sich gemächlich und sanft über dem Fenster, in einem milden Luftzug. Und sie dachte oder erblickte einen Schatten, der eine außerordentliche Frau war, fein und gelassen, so beweglich und energisch wie die Luft selbst, und sie sah sie an wie jemand, der sich still über etwas beugt. Virgínia schlug wirklich die Augen auf, die sie vor so langer Zeit geschlossen hatte, und erhob sich ruckartig in dem schmalen, düsteren Bett, das der Vorhang verbarg. Der Zug rollte ohne Hindernisse durch die ruhige, duftende Nacht. Wie viel Zeit war um die Frau herum vergangen, die sie wahrgenommen hatte? sie lächelte, ohne zu wissen, warum, den Kopf in Gedanken; mit gefasster, in sich versunkener Lust ahnte sie voraus, wie neu, wie unerfahren und unlesbar das Dasein war, wie sie selbst eines Tages würde erraten werden können von einem Unbekannten auf einer Eisenbahnlinie, ohne ein Wort zu sagen. Sie schob die Glasscheiben zu, den Vorhang, legte den schweren, blassen Kopf auf das Kissen, das zusammen mit dem ganzen Liegewagen bebte. Sie verlor das Bewusstsein und spürte nur hin und wieder das gedämpfte, ekelerregende Licht, das glanzlos über ihr brannte, zum Greifen nahe. Dann drehte sie sich auf die andere Seite und vergaß von neuem. Später schlug sie die Augen auf, schaute eine Weile ins Dunkel, ohne sich zu verstehen, hörte einen Mann nahe an ihrem Körper schnarchen, hinter dem vor Staub rauen Vorhang, im angrenzenden Abteil. Jetzt keuchte der ganze Waggon in Dunkelheit, die Lichter waren gelöscht worden, das Dahinrollen des Zugs war innerlich, phantastisch. Eine dichte Finsternis drückte auf ihre offenen Augen. Sie zog den Vorhang von der gläsernen Trennwand zurück, und bläulicher Mondschein durchschnitt plötzlich ihren Körper … Der Zug raste polternd durch die Nacht, und die Felder lagen fahl da, blutlos … zurück in die Vergangenheit, ohne jemals den Moment zu erreichen, in dem sie lebte. Ihre Augen fuhren rasch über einen Baum, und der Baum war unbeweglich, ohne dass eine Brise seine Blätter bedroht hätte. Aber es war kalt. Das Grün der stillen Maisfelder erstreckte sich bläulich violett und funkelnd in der rätselhaft klaren Landschaft; doch was dahinter lag, versteckte sich schwarz und zurückgezogen, ein Arm, der zusammen mit dem Geheimnis die Augen verbarg. Sie machte in der Ferne einen Telegrafenmast aus, und der Zug näherte sich ihm im selben Rhythmus, aufmerksam, atemlos; wenn ihr Fenster ihn erreichte und sie beide die Gegenwart waren, wurde der Mast gewaltsam zurückgeschleudert, mit einem Schlag, und der Zug entfernte sich, vergaß ihn jäh. Sie suchte in sich ein Gefühl und war nur klar, schlaflos klar. Sie versuchte nicht zu schlafen, der Entschluss brachte Gelassenheit auf ihr Gesicht – den Kopf am rastlosen Kissen, sah sie hinaus auf die Ebenen, die sich ablösten, hörte das wache Pfeifen des Zugs, wie es zum Himmel aufstieg; der eine oder andere Funke stob am Fenster vorüber, ein kleiner

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