Der Lüster - Roman
deutlichere und merkwürdigere Vorstellung von zwei Orten gehabt, die gleichzeitig existierten, von ein und derselben Stunde, die überall auf der Welt ablief, und diese unmittelbare Empfindung führte sie wie niemals zuvor an das heran, was sie nicht kannte. Wie ich mir Dinge ausdenken kann bis zum Ende – sie brachte sich durch unbewusste Hartnäckigkeit an einen Punkt, an dem sie in Wahrheit erreichte, was sie sich wünschte, und doch konnte sie nicht ertragen, was sie selbst geschaffen hatte. Es wäre um so vieles einfacher gewesen, für sich selbst besser zu sein; die Leute trafen Vorkehrungen, um in allen Augenblicken des Lebens Gesellschaft zu haben, sogar Daniel; sie hingegen, auf rätselhafte Weise ungebunden, hatte es geschafft, allein zu bleiben. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich kurz vor ihrem Umzug in die Stadt mit Daniel darauf eingelassen hatte, einen Monat auf einem Bauernhof fern von Granja Quieta zu verbringen, obwohl sie dem, was geschehen sollte, missmutig und besorgt entgegensah; sie erinnerte sich, wie sie nicht zu Abend essen konnte auf jenem Hof mit den alten Frauen und verkrüppelten Hausdienern, die Brust gefangen in Tränen, den Körper glühend vor Schweigen; und wie sie nicht schlafen konnte in dem niedrigen fremden Bett und große Mäuse herumlaufen hörte; und wie es sie nicht überrascht hätte, wenn damals die Tür aufgegangen und ein Wesen hereingekommen wäre, um sie mit sanften bläulichen Fingern zu zeichnen, ohne irgendwen, der sie hätte retten können, fern der Familie und ihren Gliedern, die schlaff waren, aber doch einen Kreis um sie gebildet und verhindert hätten, dass das, was ihr drohte, sich ihr näherte; wie hatte sie diesen Monat der Angst und des Grübelns vergessen können? erst jetzt war die Erinnerung wiedergekehrt, und danach, die Augen auf die Dunkelheit hinter dem Zugfenster gerichtet, fiel ihr ein, wie sie Daniel nicht nach Granja Quieta gefolgt war, als er sich verlobt hatte, und wie es doch leicht gewesen wäre, nicht allein zu bleiben; dann hatte sie bei den Cousinen gewohnt … und ja, bevor sie eine Wohnung gefunden hatte, war sie in der Pension untergekommen. Mit einem Seufzen näherte sie sich schließlich der Erinnerung an die Pension. Es war ein Feiertag gewesen; als sie zum ersten Mal zum Abendessen ging – auf den kleinen Tischen rotkarierte Decken, eine kleine Vase mit welken Rosen, niemand sah sie an, sie strahlte bereits etwas Vornehmes und Ruhiges aus –, da hatte sie wieder nichts essen können, die Kehle verengt durch Einsamkeit, innere Erregung, Nervosität. Ihr zitterten die Hände, und sie starrte erschrocken darauf. Danach ging sie in ihr Zimmer mit der schmutzigen spanischen Wand; sie streifte das Nachthemd über und entdeckte sich bei einer Bewegung in dem langen Spiegel, den vollen Körper als etwas traurig Wollüstiges durch den feinen Stoff hindurch – jene furchtbaren Nachthemden einer alten Jungfer, vor Vicente. Sie blickte in das tränenrote Gesicht, das Haar, das zu einem unauffälligen Dutt gesteckt war, wie alleinstehende Frauen ihn trugen; ein plumpes, eigenartiges Kind, das sicher neugierige Blicke auf sich zog. Ach ja, es gab keinen Gott, das wurde dermaßen klar, der fröhliche, frische Wind sagte es, wenn er ins Zimmer blies, die roten Blumen in der Vase wiederholten es, und alles genügte sich auf geheime und entsetzliche Art. Ohne zu wissen, was sie aus der langen Nacht machen sollte, hatte sie das Schlafgewand abgestreift, sich wieder angekleidet. Sie getraute sich nicht zu denken, da sie schon ahnte, dass der Gedanke sie noch mehr isolieren würde. Das Licht einer Lampe aus der Nachbarschaft warf leichte Schatten in ihr Zimmer; die spanische Wand schien sich zu bewegen und zu atmen. Die Blumen bebten in der schmalen Vase. Das Tischchen mit seiner verstaubten Decke schwebte außerordentlich still, als hätte es keinen Kontakt zum Boden. Sie hatte sich auf das bezogene Bett gesetzt, sich ins Kissen sinken lassen und starrte nun in die laue nächtliche Luft; allerlei Summen erfüllte die atemlose sommerliche Stille. Plötzlich zerplatzte im Herzen des alten Hauses eine Vene zu Splittern und Blut, zu stockender Freude – sie fuhr im Bett hoch, unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. Eine Musikgruppe spielte unten im Saal. Das Saxophon durchstieß die kargen Instrumente, verschob sie dabei. Unbeweglich, das Nachthemd gegen die Brust drückend, hörte sie wie in einem Traum den heiseren Foxtrott, der in
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