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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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seit sie den Brief des Vaters erhalten hatte. Aber sie wollte nicht denken und verscheuchte den Gedanken, indem sie rasch die Augen schloss, den Kopf wandte und entschlossen den Rauch ausstieß. Sie verspürte leichten Hunger, und das versprach, etwas löschen zu können. Wenn ich erst esse …, sagte sie sich in einer vagen Drohung, die Lippen trocken, wie vor einem neuen Tag. Ihr kam in einer ersten bewegten Freude in den Sinn, dass sie Daniel sehen würde, dass er wiederholen würde: »Du wirst zunehmend der stoffliche Typ«, und sie würde erröten über ihre Kinderlosigkeit. Sie fühlte sich auf einmal besänftigt, erwartungsvoll; selbst wenn ein Leben wenig glücklich und begreiflich war, ergab die Abfolge der Momente etwas Wandelbares und doch Stabiles, was letztlich ein ausgeglichenes Leben bedeutete. Ein kleines Mädchen mit einem Handtuch um den Hals, schlechten Zähnen und braunen Augen in einem runden, ernsten und blassen Gesicht – stand neben ihr. Sah sie an. Virgínia schenkte dem Mädchen ein schnelles Lächeln. Ihre letzte Erfahrung mit Kindern war tragisch gewesen.
    »Bleibst du?«, fragte das Mädchen.
    Überrascht, fast erschrocken, betrachtete Virgínia sie mit größerer Aufmerksamkeit.
    »Bleibst du?«, fuhr die Kleine fort, geduldig und sanft.
    »Wie …«
    » Bleibst du ?«, fragte das Mädchen lautstark.
    »Ich bleibe, ja, ich bleibe«, sagte Virgínia hastig und beunruhigt und starrte sie verdutzt an. Das Mädchen stand weiter da und schaute. Die Mutter, die mit dem Rücken zu ihnen saß, bemerkte, dass irgendetwas vorging, drehte sich um und fragte mit einem schnellen Blick aus ihren gelblichen Augen: »Unterhaltet ihr euch?« Virgínia nickte. »Sie weiß das mit den Wörtern noch nicht so«, sagte die Frau in einer merkwürdigen Ausdrucksweise, lächelte und drehte sich wieder nach vorn. Sie schien froh, das Kind beschäftigt zu sehen. Das Mädchen beobachtete die beiden und wartete fügsam.
    »Bleibst du?«, fragte sie nach einer Pause.
    »Ich bleibe. Und du?«
    Sie schien bei dieser Frage in große Verwirrung zu geraten; erschrocken wich sie zurück, ohne die Augen von Virgínia zu wenden. Auf einmal lief sie zur Mutter:
    »Bleibe ich?«
    »Ja, ja«, sagte die Frau, immer noch mit dem Rücken zu ihr, die Miene unmöglich zu erraten.
    Das Mädchen kam zurück zu Virgínia, verharrte in kurzem Abstand:
    »Ich bleibe.«
    »Ach ja, na, das ist schön.«
    »Und du, bleibst du?«
    »Wo denn?« Erneut erschreckte die Frage das Kind, es blickte verängstigt, das Gesicht klar und rund. Vielleicht war es nicht recht bei Trost? Die Nase lief und glänzte feucht in der Sonne, sanft und kurz. Virgínia nützte ihr Zurückweichen, um zu verschwinden. Als sie schon das Ende des Waggons erreicht hatte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass das Mädchen ihr gefolgt war.
    »Das ist Conceição«, sagte die Kleine und hielt eine Stoffpuppe hoch. Sie hob das Gesicht begierig und fein, die schmutzige Nase schien zu warten, als wäre sie blind. Virgínia presste die Lippen zusammen, die Augen plötzlich schwer zu verstecken: Mein Gott, was wollte dieses Tierchen nur?
    »Ach, die ist aber hübsch, sehr hübsch, deine Conceição«, erwiderte sie fast mit einem Schluchzen.
    »Bleibst du?«

VIELLEICHT WAR SIE zurückgekommen, um zu bleiben, aber niemand wusste es, und um sie herum verbanden sich die Momente nicht mit der Zukunft, waren nur vorübergehend und lose – das sagten ihr alle Dinge, und sie begriff. Die Großmutter war gestorben, und der Vater stieg aufrecht die Treppe hoch, die Stufen knarzten. Virgínia verschob immer wieder auf den nächsten Tag, ihren Vorsatz wahrzumachen, zu erfahren, ob er litt, und ihm zu helfen. Die Mutter war etwas unpässlich gewesen, ihre Zähne erwiesen sich allmählich als alt und schadhaft. Und gleich nachdem sie das Bett verlassen hatte, hätte alles bereit sein können für Virgínias Rückkehr. Diese Zeit auf Granja Quieta war so friedvoll und uneinnehmbar, dass sie ohne Überraschung die Möglichkeit annahm, wieder dort zu sein, ohne wenigstens einmal aufs Feld hinauszugehen, ohne einen Augenblick lang ruhig am Fluss zu verweilen.
    Sie sah sich um. Vergeblich suchte sie nach Überresten aus ihrer Kindheit, der vagen Stimmung von Komplizenschaft und Furcht, die damals in der Luft hing. Jetzt schien das Haus mehr Sonne zu bekommen. Der bröckelnde Putz an den verwitterten Wänden hatte seine traurige Sanftheit verloren und kündete nur noch von einem müden

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