Der Lüster - Roman
seine Einzelteile zerfiel. Im Haus gegenüber wurde ein Licht eingeschaltet, und ihr Zimmer, das leicht von dem Strahl getroffen wurde, öffnete sich in vager Helligkeit. Die Musik hörte auf zu spielen, Beifall setzte ein, feucht und kurz, in durchbrochenen Linien, dann brach er ab. Dieser Tag mit seinem geheiligten Datum, die geschlossenen Geschäfte, dass man auf den Korridoren und in den gemischten Badezimmern der Pension Männern im Pyjama begegnete; jetzt hatten sie auch noch ein Orchester engagiert … Morgen! morgen würde sie gehen und sich endgültig etwas suchen!, versprach sie sich. Und das – wie mächtig sie manchmal war –, das, was sie als Lüge erkannte, besänftigte sie, es half ihr, zu warten, das Herz gleichförmiger, getröstet wie ein Kind, vorsichtig pochend, um sich nicht wehzutun. Wie unerlässlich es war, behutsam mit sich umzugehen – das sollte sie immer mehr lernen, mit jedem Moment, den sie erfüllte; zu leben, als wäre sie herzkrank – tastend, sich gute, sanfte Neuigkeiten verabreichend, und dabei zu sagen: Ja, ja, du hast recht. Denn es gab in der Einwilligung, die sich jemand zusprach, einen Augenblick, der zu einer trockenen, angespannten Starre führen konnte, zu etwas, dessen Ende sich einfach nicht sagen ließe. Einen Zustand, in dem Kraft zu besitzen womöglich dem Tod gleichkäme, und die einzige Lösung bestünde in einer raschen Übergabe des Seins, rasch, mit geschlossenen Augen, ohne Widerstand. Sie verbrachte die Tage auf dem Zimmer. Während die Ehemänner arbeiteten, spazierten die Frauen in leichten geblümten Morgenröcken durch die Pension, trafen sich im gemeinsamen Wohnzimmer, um sich zu unterhalten, bemalten sich gegenseitig die Nägel, sie probierten neue Frisuren aus und liehen einander Lippenstifte, nähten Kleidung, blätterten in Zeitschriften, wie die Affen im Zoo. Nur ein Paar ließ sich kaum blicken. Der Mann hatte niedrige Brauen über Augen, die nichts erkennen ließen, ein winziges Gesicht und Ohren, so breit wie die einer Fledermaus. Die Frau war klein, kurzhalsig, mit leicht vorgewölbtem Oberkörper, fügsam, neugierig und hässlich. Die zwei schienen durch geheime Dinge verbunden, etwa durch ein Sexualverbrechen; aber er beschützte sie, und sie fühlte sich beschützt. Virgínia fiel auch ein, wie sie sich fast glühend bei einer der Frauen bedankt hatte, als diese ihr eine Zeitschrift lieh, und wie sie sich anschließend zurückgezogen hatte, mit dem Gedanken, sie habe sich lächerlich gemacht; sie war hoch auf ihr Zimmer gegangen und hatte lange darüber nachgesonnen, ob sie nicht genug gedankt oder sich zu sehr erniedrigt habe; und dann hatte sie versucht, sich zu bestrafen, indem sie die Zeitschrift nicht sofort las und so die Vollkommenheit suchte? ja, mein Gott, aber ja, das war es, was sie gesucht hatte, mit einem Körper, so groß und unbeholfen wie der eines Kindes, das hatte sie ernsthaft gesucht: die Vervollkommnung ihrer selbst. Ein weites und rätselhaftes Leben als Kind – das war wiederum, was sie wohl immer erfahren hatte, mit großen, kalten Augen. Ihr fiel auch ein, wie ihr in der Stille der neuen Wohnung so oft kam, was keinen Monat fehlte, und wie dadurch das Leben in ihrem Körper ablief, ungerührt, einem Rhythmus folgend, dem sie stolz und unruhig beiwohnte, achtsam. Ihr fiel ein, wie sie sich nach dem Abendessen an den Tisch setzte, auf sanfte Weise aufmerksam, das Herz durchbohrt von der Furcht und vom Warten; ein leichter Wind fuhr die Körperoberfläche entlang, kühlte die Luft, der neue Vorhang knisterte blind. Eine Präsenz mit erschrockenen weißen Lippen hing matt in der Luft, die Stille wurde aufgesaugt von einem Schwindelgefühl, sie neigte die Stirn, ein Geräusch kam von weit weg auf der Straße, geboren aus Bewegungen und Worten: Ja, ja …, atmete ihr Körper schwach, mit blinzelnden Lidern. Ja, ja …, in überraschter Müdigkeit wurde etwas nicht wirklich, es glitt dahin wie der Wind und verschwand für immer; ein kühles Misstrauen ließ sie erschauern; die lange, angespannte Stille schärfte ihr unnötig die Sinne … Sie verbrachte die Tage damit, sich zu begreifen. Ihr fiel schließlich auch ein, wie sie eines Abends, während sie mit dem Fingernagel am Tischtuch entlangkratzte, ein Klopfen an der Tür zu hören glaubte. Sie stand auf und öffnete, der Korridor war leer. Niemanden vorzufinden erschreckte sie so sehr, dass sie zurückwich, schnell und lautlos die Tür schloss und sich gegen
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