Der Lüster - Roman
Abscheu als eine tiefe Gewissheit des Mannes in ihrem Blut, als wäre er an sie gebunden auf eine Weise, die übermäßig intim war, fast gemein. Durch Esmeralda, die nichts wusste, fand sie nochmal anders, intensiver, Geschmack an der Stadt. Und wenn sie diese schöne Frau ansah, die niemals einen Mann gekannt hatte, fühlte sie sich auf beleidigende Weise reich, sie richtete sich auf, stolz, überrascht und ernüchtert. In dem Moment erinnerte sie sich deutlich an Vicente … sah ihn gehen, in ihrem Inneren. Und ihre Empfindung war so wahrhaftig, dass sie ihn vor sich hatte, wie er durch ein weiches Halbdunkel ging, denn ihr Inneres war zweifellos ein weiches Halbdunkel – so etwas hatten ihre Gedanken und Träume immer ausgestrahlt. Aber wenn sie willentlich versuchte, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, dann erschienen vor ihren überraschten Augen die Züge von Adriano. Und eines Nachts hatte sie einen Traum von Adriano – einen Traum, der sie mit Überraschungen füllte, mit Scham und Ungewissheit; sie verbot sich zutiefst jegliche Freude darüber und träumte nie wieder von ihm. Bei aller Verachtung konnte sie freilich nicht leugnen, zu ihrer Verwirrung: Ja, Adriano war mit Sicherheit jemand, ja; das Männlein; wenn man ihn traf, wollte man manchmal den vagen Schwung aus Kraft füllen, der in einem klaren, lebendigen Ausruf zutage kam: Ja! selbst wenn nein. Mit einem Kopfschütteln machte sie sich frei von ihm; aber er lebte als zurückhaltende Präsenz an ihrem Rand. Sie zwang eine Erinnerung herbei, die ihr, wenn sie aufkam, Vicente gegenwärtig machen könnte. Doch was sie von ihm am meisten in Erinnerung hatte, das ließ sich nicht aussprechen oder denken, ein gewisser Zustand, der zwischen ihnen eintrat, sobald sie an ihn dachte, die Verbindung herstellte … und der sich in dem Bild ihrer selbst konkretisierte, wie sie dem ernsten Genuss zusah, mit dem Vicente durchs Zimmer ging, sich ihrer Anwesenheit wohl bewusst, in irgendetwas, das die Luft zwischen ihnen füllte, einer aufmerksamen Zurückhaltung auf beiden Seiten – einer Atmosphäre des geringfügigen Unterschieds der Geschlechter wie ein gedämpfter Duft nach Gesichtspuder – während er mit kleinen Bewegungen der Lider, der Zähne, der Lippen seine freie, diskrete Männlichkeit bekräftigte, die, sosehr sie tatsächlich existieren mochte, doch auch etwas Falsches und Überzogenes hatte –, Virgínia und die Wände sahen zu. Sie erinnerte sich in einer Sekunde daran, wie er sich vor ihr umzog. Das war eines der inneren Ereignisse ihres gemeinsamen Lebens. Wenn er sich umziehen wollte, fiel wie auf Knopfdruck das Leben in ein bekanntes Bild, und sie wiederholten sich sorgsam bis ins kleinste Detail: Virgínia verharrte reglos, die Augen groß wie in einem Klassenzimmer, die Lippen eng geschlossen in einer Aufmerksamkeit, die an sich unschuldig war, da sie wirklich Anteil nahm; er schien das Denken einzustellen, während er sich umzog, die Augen suchten einen Punkt an der Decke oder Wand, je nachdem wie die Bewegungen es ihm nahelegten. Im Moment des Übergangs zwischen einem Kleidungsstück und dem nächsten, wenn der Körper enthüllt stand in der frischen Luft des Zimmers, betrachtete sie ihn schnell, aber nicht brüsk, lächelte ihm mit den Augen zu, mit einem leichten Zusammendrücken des Mundes. In just dem Augenblick, in dem ihn ein neues Kleidungsstück bedeckte, war das Ereignis vorbei, und die Momente nahmen vernarbt ihren weiteren Lauf. Das alles war so unwesentlich, dass ihre Rückschau nur eine leichte Sekunde dauerte, ein Augenzwinkern – tatsächlich beschränkte sich die Erinnerung darauf, dass ein Hemd über eine Stuhllehne geworfen wurde, und während sie diese Bewegung noch einmal vor sich sah, schwebte sie einen Augenblick lang horchend in der Luft, und der Körper lebte in sich wie im samtigen, dunklen, frischen Inneren einer Frucht. Vicente ging es in letzter Zeit fürchterlich gut; er war von so makelloser Gesundheit, dass es sie geradezu deprimierte; wie schockierend die Natürlichkeit war; wohl fühlte sie sich nur unter schüchternen Menschen, und nichts verstörte sie mehr als Ungezwungenheit. Wie sie jetzt dem Leben zusah, das Esmeralda führte, kam es ihr so erschreckend und geräumig vor, einen Mann zu haben, als wäre er aus ihrem Wunsch heraus geboren. Und manchmal schien ihr auch dieser Wunsch ein außerordentlicher Irrtum. Einen Mann zu haben, der von einem Augenblick auf den nächsten sterben
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