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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Einsamkeit … von ihrer Wut … so … Nein, was war eigentlich?, kam sie durcheinander.
    Virgínia zuckte mit den Schultern.
    »Entweder, das ist es wert, oder eben nicht«, sagte sie lustlos. Aber auch sie spürte, dass sie nicht hätte kämpfen können, selbst wenn im Kampf über ihren Weg entschieden würde. Etwas, das über das Kämpfen hinausging, fand langsam eine Richtung und erreichte ein Ziel. Sie spürte, sie waren einfach nur zwei Frauen. Still verharrte sie für einen Augenblick und sah aus dem Fenster in die klare, gereizte Luft der frühen Nachmittagsstunde. Als sie den Kopf drehte, sah Esmeralda sie an. Sie erwiderte ihren Blick, und ihr ging durch den Sinn, wie die andere doch schön und ruhig war mit ihren nachdenklichen, großen Augen, der ganze Körper hingegeben und blass, diese müde Kraft.
    »Du hast ja kaum was gelernt in der Stadt, Virgínia«, sagte Esmeralda ein weiteres Mal.
    »Ja …«
    Wieder verstummten sie ohne Warten, ohne Erstaunen. Das Esszimmer war geräumig und tief, der Tisch streckte sich lang, in der Mitte lag eine kleine Stickerei der Mutter.
    »Hier ist alles so verändert … «, sagte Virgínia wie in einem Seufzen.
    Esmeralda ließ langsam den Blick durchs Zimmer schweifen. Virgínia stand auf, trat ans Fenster.
    »Ich gehe nach oben«, sagte Esmeralda, und Virgínia drehte sich nicht um.
    Esmeralda stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, atmete zerstreut das erstickte Parfüm. In dem düsteren Raum erschien das weiße Bettlaken frisch, bestickt, überraschend. Sie setzte sich vorsichtig und leicht auf den Rand und sah ins Halbdunkel. Ein langer Wollschal umhüllte die runden Schultern und den Oberkörper, was ihr etwas Verfrorenes gab. Sie erhob sich unvermittelt, ging ans Fenster, öffnete es, die Helligkeit trat herein. Nein, für sie hatte Granja Quieta sich nicht verändert. Sie hätte die Augen schließen können, die harte Gewalt der nackten Stämme betrachten, die Sanftheit der leichten Blütenstände der Akazien im Wind; so oft schon hatte sie mit dem Blick dieselbe Landschaft gesucht, die sich hinter den Fensterscheiben abzeichnete, geputzt von ihr selbst, von ihr selbst – Schläge an die Brust aus Reue und Erlösung, von ihr selbst! – so oft hatte sie die Landschaft vor Augen gehabt, die sich bis ins Unendliche erstreckte, wenn sich der Blick befreite und über die schweren Vorhänge hinausflog, die sie selbst, sie selbst bestickt hatte. Sie beugte sich für einen Moment vor, wie um sich einmal mehr die Wirklichkeit zu beweisen – ja, hinter dem Garten offenbarte sich das Feld. Mit einer Hand an der dicken Vorhangkordel konzentrierte sie sich voller Hochmut und wachte mit dem Rücken zum Inneren des Hauses darüber, aufmerksam und kühl. In der fernen Küche fraß die wilde Katze, die sie selbst, sie selbst gezähmt hatte, ihr Hackfleisch, während die Schwarze Selbstgespräche führte und den Abwasch erledigte. Die Zimmer leer, ohne Gäste; einen Tag zuvor noch war sie durchgelaufen, hatte sich vergewissert, dass alles still war und in Ordnung. Der Korridor, der sich in Schatten getaucht dahinzog, das tiefe Treppenhaus, der Teppichboden, der sich bis zu den Zimmern erstreckte. Sie seufzte. Nein, sie sah alles so, wie sie es schon vor einigen Jahren gesehen hatte. Im Garten bewegte sich schemenhaft Virgínia – Esmeralda lehnte sich ein Stück weit aus dem Fenster, folgte ihr mit dem Blick. Ein schlichter Körper, großgewachsen und wohlgenährt, der von Virgínia; sie bückte sich, hob irgendetwas vom Boden auf und besah es sich aus der Nähe, das Haar fiel ihr in die Augen, während man noch von weitem diesen sonderbaren Makel im Gesicht bemerkte, etwas Widersprüchliches, aufmerksam, leicht schielend. Mit Interesse sah Esmeralda ihr zu, mit einem gewissen Wohlwollen, wie sie es Daniel gegenüber nie hatte empfinden können. Aber Virgínia hatte nichts mitgebracht aus der Stadt. Sie, Esmeralda, hätte besser und größer leben können als Daniel, Virgínia, der Vater oder die Mutter, sie, sie allein besaß eine außergewöhnliche, bittere Kraft, eine Konzentration des Lebens, die ihr jene unzugängliche Geduld verliehen hatte über die Jahre hinweg. Sie war wirklich größer als alle anderen und hatte sich nur nicht ins Leben und in die Stadt gestürzt, weil sie Angst hatte. Ihre Angst war so stolz wie ihre Kraft. Sie bewegte sich fast schnell, verharrte reglos. Virgínia hatte sich auf den Stein draußen im Garten gesetzt und starrte lange auf

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