Der Lüster - Roman
rufen sollte, wie schreien, dass er sie nicht allein lassen solle in diesem Moment – sie setzte sich auf das kleine Stück Rasen unter dem Baum, die Augen offen, das Herz ein ruhiges Pochen, trocken, ohne Blut. Ja, vielleicht war es besser so. Von dem dreckigen Boden stieg Staubgeruch auf, ein Hauch, der nicht aus dem entstand, was immer lebendig war, sondern aus dem, was dauernd zu sterben schien. Es herrschte eine außerordentlich angenehme Stille, grau und kalt unter der schwachen Sonne. Nur die Bäume rauschten grün, dunkel und belaubt. Sie schloss die Augen, ließ sich gewissermaßen zögern. Der Tag lang wie ein Pfeil ohne Richtung. Nach und nach, unter den gesenkten Lidern, lief etwas vorwärts wie ein Hase, nur langsam, es lief und verlor sich, wie ein verwundeter Hase, der blutet und läuft, bis er entkräftet dort ankommt, wo das Blut aus ist. Sie hätte es sagen können, es anerkennen – das ist es, das ist es, mit Sicherheit. Wie süß es war, zu laufen und sich in Schwäche zu verlieren, aber es tat weh und erschreckte; man konnte von außen nach innen das dunkle Zimmer fürchten, doch es war schrecklich, das dunkle Zimmer zu sein, und sie war eben das, das dunkle Zimmer. Es war so süß, weil man nichts verstand; inmitten von allem seufzte sie, und dieses Seufzen war die Empfindung gewesen, dass die Momente sich fortsetzten. Als sie noch eine Uhr besaß, hatte sie nicht geseufzt; sie blickte dann einfach darauf; aber die Uhr war kaputtgegangen. Nur dass sie sich müde fühlte, wie sie da am Baum lehnte, Frauen wurden leichter müde als Männer, so müde, als flösse aus einer unsichtbaren Wunde Blut, ohne Unterbrechung, wie die Luft, wie das Denken, wie die Dinge, die da waren ohne Atempause, der Hase, der lief. Wie verstörend die Leichtigkeit war. Sie war so glücklich. Einmal zu leben war immer, immer. Nur dass sie darauf nicht stolz war, und das galt so viel wie einsam zu sein, ohne sich mit der Welt zu teilen – es war notwendig, stolz zu sein, den Sieg festzuhalten und das Mitgefühl. Wie unvollständig es sich lebte!, rief sie sich zu, ein spitzer Klang, ein Horn, das dann plötzlich zerbrach. Sie glitt am Baum hinab, legte sich auf den lichten Rasen, bedeckte die Augen mit dem bloßen Unterarm. Wie unvollständig es sich lebte. Gegen was kämpfte sie? Denn in tiefster Seele, unter dem Unterarm, der ihr Dunkelheit gab, spürte sie eine leichte Anspannung, Augen, die offen standen, wachsam gegen. Ebendas war das Schicksal – schien sie zu bemerken –, denn ohne es hätte sie die Freiheit gehabt, sich durchbohren zu lassen von all den Möglichkeiten … sie, die bei Sinnen blieb mit einer Hartnäckigkeit, die merkwürdigerweise nicht aus einem tiefen Wunsch zu entstehen schien, sondern eher aus einer Art nervöser Laune, aus einer Vorahnung. Augen, die offen standen, wachsam, und eine leichte Anspannung, die verhinderte, dass … was? hinter diesen Augen war vielleicht nichts Teures und Lebendiges, das man so fleißig hätte hüten müssen, vielleicht nur die Leere, die sich mit dem Unendlichen verband, spürte sie konfus, fast einnickend – die eigene Tiefe mit dem Unendlichen verbindend, ohne auch nur ein Bewusstsein davon, ohne Ekstase, einfach nur etwas, das lebte, ohne gesehen oder empfunden zu werden, trocken wie eine Wahrheit, die niemand kennt. Wie schrecklich, rein und unanfechtbar das Leben war. Es gab da etwas Stilles und Unsagbares unter dem Unterarm, der Dunkelheit gab. Über jeden Tag balancierte sie auf Zehenspitzen, über jeden brüchigen Tag, der von einem Moment auf den anderen zerfallen und ins Dunkel stürzen konnte. Sie aber durchquerte ihn auf wundersame Weise und gelangte erschöpft vor Freude und Müdigkeit bis zum Schlaf, um am folgenden Tag überrascht neu zu beginnen. Das war die Wirklichkeit ihres Lebens, dachte sie so von ferne, dass die Vorstellung sich in ihrem Körper verlor wie ein Gefühl, und schon jetzt schlief sie. Das war das Ereignis, geheim und alltäglich, das, was unter dem Unterarm blieb, selbst wenn sie sich in eine Zelle gesperrt und all ihre Stunden dort verbracht hätte, das war die Wirklichkeit ihres Lebens: Tag für Tag zu fliehen. Und erschöpft vom Leben zu jubeln in der Dunkelheit.
Sie stand auf, zog die Schuhe aus, warf sie hinter den Baum und lief los, sie lief, lief, lief. Sie überquerte das Brachland hinter dem Hof, sie lief, sie lief. Dann schlug sie den schmalen, langen Weg ein, und ihr Blick gewöhnte sich an die grünen
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