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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Held.«
    Er sagte nichts, er wusste Bescheid, schloss die Augen, das eigene Leben ertragend. Ihr fiel ein, wie er früher gesagt hatte: Ich will kein Junge sein. Sie warf ihm einen feinfühligen Blick zu. Er war ein Mann. Die Jungen und Mädchen sollten unbedingt die Namen wechseln, wenn sie groß wurden. Wenn jemand jetzt Daniel hieß, hätte er früher Círil sein sollen. Virgínia – sie neigte sich nachdenklich in ihr Inneres, während Daniel unter dem Baum einzunicken schien –, Virgínia war eine Anrede voll aufmerksamem Frieden, wie ein Schlupfwinkel hinter der Mauer, dort, wo dünne Gräser wuchsen wie Haare und wo niemand da war, der den Wind hätte hören können. Aber nach dem Verlust dieser vollkommenen, dünnen Gestalt, so klein und empfindlich wie ein Uhrwerk, nach dem Verlust der Durchsichtigkeit zugunsten einer Farbe hätte sie Maria Madalena oder Hermínia heißen können oder auch sonst irgendwie, nur nicht Virgínia, dieser Name von so frischer und düsterer Altertümlichkeit. Ja, und sie hätte auch als Mädchen ruhig Sibila sein können, Sibila, Sibila. Virgínia … Sie seufzte, bewegte dazu den Kopf. In gewisser Weise konnte sie Virgínias und Daniels Vergangenheit nicht ertragen. Sie hockte da und sah ihn an – es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm ganz außerordentlich viel daran gelegen hatte, einen Magneten zu besitzen. Manche Menschen, denen vom Schicksal vorbestimmt zu sein schien, das Leben ein weiteres Mal zu leben. Er regte sich, erahnte die Anwesenheit der Schwester, sie winkte mit den Händen, die zwei sahen einander so ähnlich in diesem Augenblick, sie waren schon immer gleich gewesen. Ein langer Weg hatte sie zu diesem Moment geführt. Ein Gefühl von solcher Aufrichtigkeit überkam die beiden, dass sie sich schnell und beklommen ansahen. Er kniff die Augen zusammen; sie starrte in die ferne Luft, so schmerzlich war die angespannte Atmung, so verschwistert fühlten sie sich, so bereit, zusammen die Welt anzusehen, mit Interesse und Spott wie bei einer Reise, endlich, unter kleinen Neuigkeiten und gedankenversunkenem Schweigen, ja, aus allem einen Scherz machend, aus allem, so unmöglich war die Reise, beide so voller Liebe für immer, für immer … Und sie würde in Sekundenschnelle begraben werden unter dem Verstreichen der Momente, größer als die Ewigkeit. Ach, gib ihm einen Augenblick wahren Lebens, das schöne Gesicht langgezogen in Farbe und Hoffnung! Sie lehnte sich gegen den Baum, die Augen weit aufgerissen. Es drängte sie, etwas mit Jähzorn zu sagen, mit Freude, sollte doch die Gewalt als Funkeln die Luft zerreißen, sich aufzulehnen, sich zu begreifen!, sollte ein Pferd in schnellem Lauf auf dem Feld erscheinen, sollte ein Vogel schreien. Als finge ein Stein an zu reden, sprach er, und sie hörte ihn mit Überraschung im Herzen – eine Vorahnung? –, es klang hohl, schon in einem Anfang von Gelassenheit, er sagte ruhig, die Augen noch immer geschlossen, in einem Ton, der so gewöhnlich war:
    »Was zum Teufel muss ich auch so sein wollen wie ich.«
    Nie würde er »wir« sagen. Sie sah lange zu Boden, der harte, brüchige Zweig hinterließ auf ihren grauen Händen Reste von fauligem Holz. Die Sonne erschien weißlich über dem Garten, die Ameisen liefen ohne Laut, fast ohne mit ihren dünnen Beinen den Boden zu berühren, der ihnen Widerstand bot. Ein leiser, schmeichelnder Wind blies das trockene Laub um den Baum. Sie sagte, und der Zweig kratzte dabei leicht über den Boden:
    »Wenn du wüsstest, wie zart das Leben sein kann.«
    Beide verharrten, die Gesichter ausdruckslos und schwebend in unentschlossener, aufmerksamer Gelassenheit. Die leichten Füße eines Vögelchens traten auf ein Blatt, es bewegte sich, die Schatten machten den alten Garten sanft und tief. Sie drang vor in eine gute Stille, bis Daniel fragte und ihr damit eine eiskalte Spitze ans Herz hielt:
    »Und du?«
    »Ich bin die Geliebte von Vicente«, hörte sie sich antworten.
    »Glücklich?«
    »Du weißt ja, es ist immer das Gleiche, ich könnte nicht glücklicher sein, als ich es bin, und ich könnte nicht unglücklicher sein, als ich es bin.«
    Er wiegte zustimmend den Kopf. Und da sie nicht einen Moment länger ausgehalten hätte, stand sie auf und tat einen kleinen, durchdringenden Schrei:
    »Wollen wir spazieren gehen!?«
    Er sagte:
    »Nein, ich gehe ins Haus.« Er stand auf und entfernte sich von ihr wie an dem Tag mit dem Ertrunkenen, und wieder wusste sie nicht, wie sie ihn

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