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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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wiegte viele Male den Kopf, mit einer erregten Freude, sie hörte zu, nickte, während sie sprachen, sie lachte, ließ die kaputten Zähne sehen – aber um Himmels willen, schnell, schnell, von einer Mutter, von einer Tochter, von einer Schwester, von jemandem, der geboren war und der sterben würde. Der Vorhang wehte bis in die Mitte des ärmlichen Wohnzimmers, beschleunigte das Leben mit einem Rhythmus aus Freizügigkeit und Lust, Virgínia überkam der Wunsch zu reisen, ein akuter Wunsch, fast fröhlich und durchdringend, schon verzweifelt. Aber irgendwie durfte sie sich auf keinen Fall für so einen einsamen Traum von Daniel entfernen, und sie brachte sich dazu, zu überlegen, dass die Reise aus Phasen und Tagen bestand, aus Zeit, vielen Beobachtungen und nicht nur einer einzelnen Empfindung, einem einzelnen Flug und einer einzelnen Befriedigung, als Antwort auf einen einzelnen Wunsch.
    »Der armen Cecília geht es wohl ganz gut«, sagte Daniel mit einem vagen Lächeln.
    »Und Ruth?«, fragte Virgínia rasch, ohne aufzusehen, und schürzte gleichgültig die Lippen.
    »Die ist bei der Mutter«, sagte Daniel schlicht.
    »Kinder will sie keine?«, fragte Virgínia, während sie eine unglückliche und verstörte Ameise mit dem trockenen Ast gegen den Boden presste.
    Er lag still da, und sie spürte, ohne ihn anzusehen, dass er noch tiefer verstummt war. Sie errötete, fragte nicht noch einmal, ihr ging durch den Sinn: Aber ich wollte dir nicht zu nahetreten …, bestürzt, verletzt, mit einer Spitze von Hass, die in ihr glühte. Aber er sagte auf einmal:
    »Wenn ich sie das frage, dann lacht sie bloß und sagt: Das willst du noch nicht.« Er wartete ein wenig und fuhr dann fort, mit einer gewissen Überraschung, die sich gerade in dem Augenblick zu erneuern schien. »Das ist ihre einzige Antwort, mehr bekomme ich aus ihr nicht raus.«
    Virgínia nickte mehrmals hintereinander:
    »Ich weiß, ich weiß.«
    Daniel musterte sie mit Interesse:
    »Was denn?«
    Aber was auch immer sie begriffen hatte, verflog, sie suchte aufmerksam, brachte dann nur hervor, mit einem Schulterzucken:
    »Ich weiß nicht, ich glaube, wenn Frauen keine Rivalinnen sind, verstehen sie sich.«
    In der Liebe geht’s nicht nur um Kinder, hatte Vicente sie eines Tages angeblafft, am Anfang eines Streits, dessen Anlass sie vergessen hatte, so niedergeschlagen und traurig war sie, dass sie das schließlich vergaß. Aber warum sollte Ruth keine Kinder wollen? Der Grund war ihr völlig entfallen, den sie doch kurz davor erfasst hatte. Sie sah Ruth vor ihrem geistigen Auge – die wusste ein Geheimnis zu wahren. Sie schien nicht das geringste Bedürfnis zu haben, etwas von sich zu erzählen. Und das kam für die Leute einer Beleidigung gleich. Sie war glatt und frisch und hätte viel von einem Heiligenbild gehabt, wäre da nicht die Intelligenz ihrer Augen gewesen, die auf unmerkliche Weise aufmerksam waren, ihre Eindrücke behielt sie für sich. Sie grüßte wie eine Postkarte, lächelte dabei voll kalten Lebens. War es das? Sie sah Ruth vor ihrem inneren Auge und fand sie seltsamerweise ruhig und gut – ja, das war der Eindruck gewesen im Grande Hotel, in der Stadt, dort, wo Daniels Verlobte, ihre Eltern und ihre beiden Schwestern für eine Zeitlang wohnten und wo Daniel sie kennengelernt hatte. Aber Virgínia hatte den Eindruck vor sich selbst verborgen, und so dachte sie, sich belügend: Sie wird aus Daniels Leben etwas machen, wo es eine Uhrzeit für das Mittagessen gibt, eine fürs Abendessen, eine für den Schlaf, auch das Sexuelle wird geregelt sein, gesund, sauber, fast vornehm, wie in einem Sanatorium. Daniel hatte Virgínia mitgenommen, um sie den Eltern des Mädchens vorzustellen. In dem überaus großzügigen Hotelzimmer waren sie zusammengekommen, ein großer, verwirrter Besuch, bei dem sie nichts zu sagen hatten. Ruth trug ein perlgraues Seidenkleid, das Gesicht ungeschminkt, blass und gelassen. Ja, schon damals war in ihr etwas, das Daniel nicht würde verstehen können. Und das sie ihm niemals zeigen würde – während sie lächelte, ihn ansah, ihn liebte, den Kopf erhoben ganz ohne Stütze. Wie hatte sie sich nicht schon damals eingestanden, was sie sah?, dachte Virgínia; vielleicht aus Geiz. Sie hatte sich mit Daniels künftiger Schwiegermutter unterhalten, einer kleingewachsenen, munteren Frau im engen Mieder, die eingezwängten Brüste schnürten ihr fast den Hals ab; das graue Haar in einem Friseursalon gelegt. Unter

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