Der Lüster - Roman
der Freude, so wie sie es einmal irgendwo gehört hatte, ja, das war es! doch jetzt war es unmöglich geworden, das zu erklären. Und selbst wenn – nein!, sie zog sich hart und einsam zurück, wenn er über sie urteilen wollte, mochte er das im Stillen tun. Sie war unangenehm überrascht, wenn Vicente sie deutete. Wie das ausdörrte, das Verstehen anderer. Sie folgte seinen Worten mit Neugier, aber hinterher konnte sie seine Entdeckungen nicht mit sich in Einklang bringen – so wie es nutzlos gewesen wäre, einen Ast vom Baum zu brechen, daraus einen Stuhl zu machen und ihn dem Baum zurückzugeben: Was Vicente aus ihr machte, das nahm sie niemals an, selbst wenn sie es mit sich trug. Ihr war lieber, er verschonte sie damit – nur bei Daniel ertrug sie die Versuche und Fehlgriffe, weil Daniel und sie beide aus demselben zögerlichen Stoff waren und sich den Dingen niemals lachend zuwandten; ihr Höchstes an Freude passte in ein Lächeln Vicentes. Sich so von Vicente zu Daniel hin zu entfernen, erschreckte sie, und sie verband sich so jäh wieder mit Vicente, dass ihre Körper geradezu aneinanderprallten, und als sie ihn ansah, reagierte Vicente mit einem Lächeln. Und war es nicht fast deswegen, dass sie sich ihn verliebt hatte? weil sie geahnt hatte, dass Vicente laut lachen konnte, nicht bloß so wie Daniel, sondern mit einem maßlosen Lachen, das inmitten der Kraft an die Unmöglichkeit erinnerte, noch lauter zu lachen – und das rief eine fröhliche Zärtlichkeit hervor, einen Wunsch, lachend zu vergeben und zu vergessen. Auch in der Liebe ließ sie sich von ihm führen – und daran dachte sie nur auf eine Weise: indem sie sich sah, wie sie ihm beiwohnte, wenn er sich bewegte, sprach. Aber wie sehr man sich täuschen konnte, solange man alleine war: Sie hatte sich immer in aller Gelassenheit für eine großartige Liebhaberin gehalten, bis er kam und ihr das Gegenteil bewies – und so vergingen die Monate. Ihr war es lieber, wenn Vicente sie nicht jedes Mal sofort umarmte. Ihr war es lieber, wenn sie nicht sehen musste, wie sich seine Stimme und sein Blick veränderten, als wäre eine Phase abgeschlossen und es begänne eine neue. Ihr war es lieber, wenn er sie manchmal nicht so heftig begehrte, sie fast lähmte vor hastiger Verblüffung – obwohl das alles in Wahrheit nur konfus geschah, ohne Kraft, ohne auch nur eine Abwehr hervorzurufen, es suchte sich einfach die einzig mögliche Lebensform. Sie hatte nie genug Zeit, um sich an seine Sätze zu gewöhnen, denn er sagte schon den nächsten, kaum dass der eine beendet war, sie hatte nie genug Zeit, um sich auf seine Zärtlichkeiten einzustellen, denn er ging sofort zu einer neuen über, während sie noch der vorherigen zugewandt blieb – das also waren die Geheimnisse des Lebens. Sie ließ sich von ihm führen … Ja, ja, bei seltenen Gelegenheiten nahm sie in einer überraschenden Feststellung wahr, was er haben wollte, und ihr armer Körper zögerte vor diesem Rätsel, sie wurde ganz weit und verlor sich, floss zurück, taub … – es wäre unmöglich gewesen, ihr Sein mit einem der eigenen Gedanken zu durchqueren. Sie hätte nie versucht, vor Vicente her zu gehen; sie folgte ihm, weil sie nicht in der Lage gewesen wäre, alleine, in der feuchten Hand, den schnellen Stern zu tragen, der binnen kurzem seine Form verlieren würde wie ein Eistropfen, der schmilzt; alles so gefährlich, einfach und schwerelos … Das war also das Geheimnis, auf das man seit der Kindheit zuging; das Zentrum des Begehrens war schillernd und düster, elektrisch und und auf so furchtbare Art, neu und zerbrechlich in seiner Verwobenheit, dass es sich selbst zerstören konnte, wenn es nur ein klein wenig tiefer wurde, nur noch einen Augenblick länger funkelte.
Zusammen aßen sie irgendetwas zu Abend. Dann machte sie sich auf den Heimweg, die Straßenbahn schnitt durch die Dunkelheit. Sie spürte den Rückweg, den Rückweg. Wenn er eines Tages auf die Idee käme, sie nach Hause zu begleiten, wäre sie imstande, eine tiefe, gedämpfte Sattheit zu verspüren, vergleichbar derjenigen, die eine verheiratete Frau wohl immerzu erlebte. Sie sprang aus der Straßenbahn und ging das kleine Stück zu Fuß. Dann schloss sie die Tür auf, ging hoch, sah einen Moment lang die Dinge an, bevor sie den Schalter betätigte – sie verband sich mit allem, ohne etwas zu berühren. Sie legte sich hin und zog die weißen Laken in der Dunkelheit zurecht – es kam der stille Augenblick
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