Der Lüster - Roman
Frische, er hätte sie einhüllen können wie ein Krake, und doch war sein Fleisch fest, und Virgínia könnte dagegenprallen. Nur dass seine Augen übermäßig groß waren, manchmal benommen hinter den Brillengläsern, sie öffneten eine Pause in seinem Gesicht, ohne ganz damit zu verschmelzen. Und die Lippen drückten sich manchmal zerstreut und schlaff aufeinander, in einem schrecklichen Ausdruck von Überdruss und Vernachlässigung, fast schon Verfall – sie wandte sich ab, das Herz raste, wollte sich flüchten in den Anblick eines unbelebten Gegenstandes, ach, eilends in eine vollkommene Region gelangen, wo Kälte sich mischte mit Licht. Gewisse Gesten von ihm, manche Worte waren brutal lebendig und fast blind, sie stürzten ihn in eine langsame Mitte aus Blut und Gier, füllten sie mit Ekel und Entsetzen – wo blieb die kluge Güte auf seinem Gesicht? Sie betrachtete ihn fasziniert, das Herz heiß nach kurzer Zeit; doch kaum gelang es ihr, den Blick zu lösen, überkam sie eine fast schmerzliche Kühle, der Körper spannte sich in den Fasern, als wollte er fliehen, nur fort von jenem lauen Leben in Unterlegenheit, getragen von einem ehrlichen, fast gemeinen Duft. – Einmal hatte die Mutter beim Mittagessen eine schlechte Nachricht erhalten, und sie weinte, zwischen den Zähnen die Spuren dessen, was sie gekaut hatte! – oh, alles, was geschieht, ist Unschuld, das spürte sie und verzieh es zugleich. Da verschlang sie der Überdruss. Wenn sie ein Buch zur Hand nahm, fand sie darin dieselbe glitschige Bewegung, Seelen, die sich Vergebung erschlichen, Liebe, die Liebe suchte, die dargebrachten Opfer und ihr Lachen, Feigheit und höchste, lauwarme Lust. Bei Gott, das war der Mensch. Selbst wenn sie in einer Buchhandlung in einem Buch über Zugmaschinen blätterte, fand sie in der Art der Gedankenführung weiblichen und männlichen Duft, Worte, die sich erhitzt und lebhaft aneinanderreihten, und der Weg auf der Suche nach einer Idee wand sich, führte hinauf, lebte … Liebe, Liebe, Mitgefühl, Reue, Sympathie durchtränkten tatsächlich die Frische, verleimten sie mit derselben Hitze. Sie verstand jetzt den Ausdruck Daniels, dieses vage verschreckte Gesicht von ihm in der Zeit der außerhalb verbrachten Nächte. Auch in ihm kreuzten sich die Gewebe mit einer pflanzlichen Struktur, und er war in die Mitte der Frau geworfen worden, dorthin, wo das Blut der Welt pulsierte. Das also war das Geheimnis des Lebens. Da liebte sie dann Vicente so, wie die Tage verstreichen. In Wahrheit verlor sie sich jenseits jeglichen Wollens, und ihre einzige Zuflucht waren reine Gedanken von Menschlichkeit, gelassene, trockene, kompakte Dinge – die Baustellen, bei denen sie auf der Straße stehenblieb wie eine Schwangere, die ein ganz spezieller Wunsch packt und eine neue Empfindsamkeit. Sie aß zu der Zeit kaum, wie angewidert von den Lebensmitteln, in denen noch die Erinnerung an ein vorangegangenes Leben pulsierte. Ohne es zu wissen, wiederholte sie für sich wie in einem vollkommenen Gebet: Kalk Eisen Sand Stille und reinigte sich in dieser Abwesenheit von Mensch und Gott. Ermunternde Worte, Ehrlichkeit, das Bedürfnis, klugen und edlen Leuten nahe zu sein, das Bedürfnis, glücklich zu sein, fast schon das Bedürfnis, zu sprechen vor dem Tod, das alles schien sie durch den Raum hindurch aufzurichten, als ließe sie einen Schwall weicher Luft über sich ergehen, unter dem Körper hindurch, und wäre selbst eine erschrockene, dankbare, müde Luftblase, »man ordnete halt sein Leben auf die bestmögliche Weise«. In dem Moment, in dem der Schwall aufhörte – aber würde er das jemals tun?, wusste sie nicht, dass sie sich fragte, unterwegs im Ekel und im Dunkel –, würde sie mit einem Ruck ausbrechen in-was, mit plötzlichen eiligen Schritten nach dem Fall, würde sich aufmachen, ohne Zeit zu verlieren, um das verpasste Leben auszugleichen, sich aufmachen nach-wo, die Augen offen, lebendig, ohne Grausamkeit gegenüber sich selbst und ohne Mitgefühl oder Freude, weil sie nicht mehr strafen müsste, ohne auch nur ein Wort, das war es, ohne auch nur ein einziges, bei Gott, reingewaschen wie nach einer großen Wut. Sich befreien von der Mutterschaft, von der Liebe, von der Innerlichkeit, und angesichts des Wartens der anderen sich verweigern, zum Liegen kommen, hart und verschlossen wie ein Stein, ein heftiger Stein, was scherte sie alles andere – wie sie Daniel zu sein wusste, ohne auch nur genau zu wissen, was sie
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