Der Lüster - Roman
ohne Kummer wieder trennte. Nach dem Duschen schloss sie die Fenster, machte die Küche mit ihrem alten Geruch nach Bratöl, Kaffee und Kakerlaken zu, setzte den Hut auf, sperrte die Wohnungstür ab und ging hinaus, die rote Tasche in der Hand – bevor sie endgültig die Türe schloss, hielt sie kurz inne, blickte auf die Wohnung, die schon dalag wie im Schlaf, eingehüllt in warme Dunkelheit, lächelte den bereits vagen Dingen zum Abschied zu –, für einen Moment fühlte sie sich etwas zögerlich und schwankte, ob sie die Tür schließen und strahlend zu Vicente aufbrechen oder wieder hineingehen sollte, die so hohen Schuhe abstreifen, sich ins Bett verkriechen und nichts hören, überhaupt nichts. Und wenn Vicente erschrocken nach ihr schauen käme – nie würde er das –, dann würde sie mit geschlossenen Augen, eindringlich verkünden: Ich bin gestorben, gestorben, gestorben. Aber das blieb ein sekundenlanger, wirbelnder Irrtum, denn in einer Wahrheit, die unmittelbar da war, stieß sie die Tür zu, mit einem kleinen, harten Schubs, drehte den weichen Schlüssel im Schloss, und als sie mit den Dingen so übermäßig in Berührung kam, sagte sie sich vorwurfsvoll: Was bist du denn so ruppig zu der Tür. Auf der Straße würde sie möglicherweise von irgendeinem Blick entdeckt werden – die geheime Einheit, die sie den Menschen gegenüber spürte, bevor sie sie näher kennenlernte. Solche Begegnungen konnten einer Frau in der Stadt passieren. Unverhofft erfasste jemand ihre stillste Substanz, durchbohrte sie mit Augen, in denen keine Überraschung lag; sie fürchtete, diesen Blick zu behalten, wusste irgendwie, dass das eine Intuition war, die keinen Moment länger dauern würde als der eigentliche Moment; doch sie konnte sich nicht erinnern, jemals richtig verstanden worden zu sein. Ihr Herz aber schlug schneller, in der Brust begann sich etwas zusammenzuziehen aus Freiheit und Lust, so intensiv und weltlich, dass sie sich tatsächlich mit einer Bewegung daraus löste, sie tat dann etwas, als wäre es zum ersten Mal – streifte heimlich ein Haar ab, schaute mit einer gewissen Beherrschtheit in ein Schaufenster, als ballte sie damit die Fäuste, um nicht zu schreien. Sie wusste aber, wie sie Vicentes Liebe schonen konnte: Sie schob mit zitternder Hand die Wahrnehmung der Dinge beiseite, und ihr Leben schloss sich um sie als einziges Leben – kaum war sie im Bus, begann sie anders zu atmen, vergaß die kleine tote Wohnung, ihr Herz wurde reicher an schwierigen Bewegungen, ein formloser Schmerz durchbohrte sie, und ihre Augen öffneten sich zunehmend unruhig und durchscheinend. Selbst wenn sie auf der Straße niemand ansah und sie unauflöslich ihrer Wege ging, mit baumelnder roter Handtasche, selbst wenn ihre Gesten beim Einsteigen in den Bus in mehrere Zwischenschritte zerfielen, angestrengt und aufmerksam, selbst wenn ihr Körper sich plötzlich verlassen ahnte und verwirrt, war all das noch ein erträgliches Vorspiel, weil … warum eigentlich? im Grunde nicht, weil sie unterwegs war zu ihm, sondern viel leichter, kürzer, dümmer: weil sie unterwegs war. Ein reiner Impuls nach vorne, wie wenn man sich über die feuchte, schmale Brücke neigte, die nach fauligem Holz roch, und ins Wasser sah, das ausgeglichen dahinfloss unter dem farblosen Boden – so wie wenn man erwachte ganz ohne Empfindung und langsam ein wenig Hunger aufkam, gemischt mit dem Duft nach Milchkaffee vom Nachbarn, gemischt mit der müden, bleichen Sonne auf den Kleidern über dem Stuhl –, und keine Erinnerung an den Tag davor, nur die Gewissheit des Tages, der kommt. Vicentes Wohnung betrat sie durch die kleine Tür hinten bei der Küche, um nicht klingeln zu müssen, und wartete dann einen Moment – für einen Augenblick schien ihr spürbarer, dass sie durch sich selbst, durch Vicente und durch ihre Abwesenheit von Granja Quieta auf etwas zusteuerte, das es noch nicht gab; mit solcher Wirklichkeit traf sie das Gefühl von Gegenwart, dass sie zu einer anderen Empfindung abglitt, fester und möglicher: auszukosten, auszukosten – der Moment, der kam, war schnell und frisch, und sie betrachtete ihn müde. Plötzlich gewann sie an Lebendigkeit, ganz akut, als nähme sie selbst endlich ihren Anfang. Sie hätte von dieser neuen Stimmung besser Gebrauch machen können, wenn aufzuräumen gewesen wäre, zu fegen, zu waschen – aber sie hätte nicht zärtlich sein oder sich in großer Spannung unterhalten können wie jemand,
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