Der Lüster - Roman
Körper Salz als essentiellen Bestandteil benötigte und der es daher mit durstigem Genuss zu sich nähme – sie hatte schon immer eine einfache, gierige Lust verspürt, sich Mühe zu geben und klar zu sich zu sagen: Ich sehe einen Stuhl, eine Puderdose, eine aufgeklappte Schere, eine schwarze Schublade … Das große Stillleben, in dem sie lebte. Doch auch so hatte sie den Eindruck, sich mit den Dingen zu vermischen, sie nach Gutdünken herzurichten und zu stören. Ach, wenn ich doch nur Zeit hätte, nur ein bisschen Zeit, schien sie sich zu sagen, mit hängendem Kopf, verwirrt. Im Übrigen war ihr etwas aufgefallen: Wenn sie die Augen richtig aufmachte, sah sie nichts. Außer Wörtern, Gedanken aus Wörtern. Wenn sie die Augen weit aufriss und die Großmutter ansah, wie sie dasaß, verlor sie ihren klaren Begriff von der Großmutter und sah nichts, nicht einmal ein altes Mütterchen. Die Wahrheit war so schnell. Man musste die Augen zusammenkneifen. In seltenen, schnellen Sekunden des Sehens kam ihr der Gedanke, ihr Austausch mit der Welt, diese geheime Atmosphäre, die sie um sich herum pflegte wie ein Dunkel, sei ihr letztes Dasein – hinter dieser Grenze war sie selbst lautlos wie ein Ding. Und es war dieses letzte innere Leben, das lückenlos den Faden ihres elfenhaftesten Daseins in der Kindheit aufnahm. Der Rest erstreckte sich schrecklich neu, er hatte sich gewissermaßen aus sich selbst geschaffen – jener Körper, den sie jetzt hatte, und die Gewohnheiten dazu. Und diese Religion verfügte über so wenig Reichtum und Macht, dass sie kein Ritual kannte – ihre größte Geste erschöpfte sich in einem raschen, unmerklichen Blick, gefüllt mit »Ich weiß, ich weiß«, mit einem Versprechen wechselseitiger Treue und Unterstützung innerhalb einer Vereinigung, die geschlossen war und fast schlecht; einig und einfach, symbolisierte sie keine Bewegung, sie war das Mysterium als Angenommenes. In Wahrheit jedoch wusste sie nicht, was ihr geschah, und die einzige Möglichkeit, es zu erfahren, bestand darin, es zu durchleben.
Nur so verband sie sich mit der Vergangenheit, an die ihr die Erinnerung fehlte. Gedächtnislos lebte sie schlichtweg ihr Leben ohne Ekstase; allerdings gab es eine seltsame Aufmerksamkeit, die sie manchmal ergriff, und dann unternahm sie einen vagen Versuch, daran zu denken, wie sie aus der Kindheit an die Oberfläche gekommen war, suchte vergeblich nach Orientierung; in seltenen Momenten war ihr, als hätte sie denselben Augenblick bereits in einer anderen Zeit erlebt, einer anderen Farbe und einem anderen Klang – plötzlich brach ihr Rhythmus ab, sie erstarrte, und mit einer Ruhe, die aus Schreck und Vorsicht gemacht war, tastete sie in ihrem Inneren, suchte etwas zu entdecken. Sobald sie sich jedoch dieser nebelhaften, dunklen Erforschung bewusst wurde, stürzte sie in eine verwirrte Süße, ein Begreifen der Unmöglichkeit, und sie verlor, für eine Sekunde ziellos, die gewagten Schritte. Geduldig versuchte sie, sich jene ereignislosen Kindheitsjahre klar ins Gedächtnis zu rufen; der eine oder andere Umstand erhob sich aus ihrer Erinnerung wie weit voneinander entfernte Pfeiler, scharf konturiert und haltlos. Kaum trat sie näher, zerfielen sie ihr unter der Hand. Wovon hatte sie damals gelebt? sie versammelte ein paar karge Umstände, die eigentlich nicht durch sie selbst ans Licht gebracht wurden, sondern durch die Rede der anderen, die ihr wieder einfiel, oder durch die Erinnerung, dass es ihr schon einmal gelungen war, sich zu erinnern, sie konnte sie sammeln, organisieren, doch ihr fehlte eine verbindende Flüssigkeit, die all die losen Enden zu einem einzigen Lebensprinzip verschmolzen hätte. Die Geschehnisse reihten sich auf, in regelmäßigen Abständen, solide und hart; während die Art zu leben immer unwägbar blieb. Vielleicht hätte eine gewisse Anstrengung ihr die Erinnerung wiedergebracht, eine gewisse Haltung, zu der sie nicht fand, als wälzte sie sich in einer schlaflosen Nacht im Bett, ohne die richtige Position zu finden. Ach, hätte ich nur Zeit, wiegte sie den Kopf, mit Missbilligung und Bedauern. Sie wusste, dass das niemals der Fall sein würde. Der Ort, an dem sie geboren war – sie empfand ein vages Erstaunen darüber, dass es ihn noch gab, als gehörte auch er zu dem, was man verliert. Sie selbst lebte jetzt stehend wie eine aufgerichtete Säule – was hinter ihr lag, das war die Welt vor der Säule, eine laue, intime Zeit, doch wenn sie daran
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