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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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dachte und versuchte, sie wiederaufleben zu lassen, war die Zeit plötzlich unpersönlich, kühle Luft aus einem Abgrund aus langsamen Nebelschwaden. Sie bemühte sich, ihre Vergangenheit zu spüren wie ein Gelähmter, der vergeblich das fühllose Fleisch eines Körperteils betastet, aber natürlich kannte sie ihre Geschichte so wie alle Menschen. Sie sah sich getrennt von der eigenen Geburt, und doch spürte sie diffus, dass sie die Kindheit irgendwie verlängern sollte, zu einer einzigen ununterbrochenen Linie, und dass sie, ohne sich zu kennen, etwas entfaltete, das seinen Anfang im Vergessen hatte. Die Gesellschaft der Schatten … – sie lächelte plötzlich blass, während die Augen in der Anstrengung, dem nachzugehen, kurz aufblitzten und wieder erloschen. Die Gesellschaft der Schatten … Sie wusste noch, dass sie und Daniel ein Leben voller kleiner Geheimnisse gelebt hatten, in Schrecken; kleine Geheimnisse … war es das? nein, nein. Vor allem hatte sie seit jeher ein außerordentliches Gedächtnis dafür, Dinge zu erfinden. Ja, und dass sie sich immer auf der Lichtung trafen, ja, auf der Lichtung. Wie sie die Angst erfahren haben mussten … Man ist so mutig als Kind; nur das? danach hatten sie verabredet, dem Vater von Esmeraldas Rendezvous im Garten zu erzählen. Arme Esmeralda, aber warum?, sie wusste es nicht, die Wahrheit war, sie hatte erzählt, der Vater hatte geschrien, sie selbst hatte eine Ohnmacht vorgetäuscht oder war wirklich in Ohnmacht gefallen … so schlau! ihrer aller Leben hatte sich daraufhin verändert, das wusste sie, zweifellos weil sie kein Mädchen mehr war; da nähte sie also, ging spazieren, besuchte einige Familien in Brejo Alto, ernst, schweigsam, Daniel half dem Vater im Schreibwarenladen. Obwohl sie sich nicht deutlich an jene Zeit erinnerte – man lebte so viel jeden Tag –, schien ihr, dass sie jetzt doch etwas ungeduldig mit sich sei. Nur eines vergaß sie nicht – sie lächelte in sich hinein –: Jemand war im Fluss ertrunken … Es konnte auch nur ein Hut gewesen sein, aber sie waren erschrocken. Dennoch bewahrte sie das Geheimnis. Ach, sie war in den Keller gegangen, in den Keller! aber war das wichtig? ihr Gedächtnis löste sich in Schatten auf, der Glanz erlosch in sanfter, ärmlicher Stille. Eine tiefe Erschöpfung, eine gewisse Verwirrung ergriff von ihr Besitz, am Ende war ihr nie etwas geschehen … Und warum dann dieses Bewusstsein von einem Rätsel, das es zu bewahren galt, dieser Blick, der bedeutete, dass sie da gewesen war, auf unsagbare Weise. Vage wusste sie, dass sie schon einmal gelebt hatte über die Momente hinaus, in einer glücklichen Blindheit, die ihr die Macht verlieh, den Schatten eines Gedankens durch einen Tag hindurch zu verfolgen, durch eine Woche, ein Jahr. Und das war auf rätselhafte Weise leben, man vervollkommnete sich im Dunkeln, ohne auch nur eine Frucht zu ernten aus dieser unwägbaren Vollkommenheit. Später sollte sie versuchen, Vicente Dinge aus der Kindheit und von Daniel zu erzählen, und ihn überrascht sagen hören, mit einem Lachen: Ich weiß schon mehr oder minder, wie ihr wart, aber was habt ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht? Ja, hatte sie denn nichts erzählt?, verharrte sie still und erschrocken. Ein Mensch konnte sich verbrauchen, indem er einfach nur war; jede Minute, die verging, war sie gewesen, war sie gewesen. Sie ertrug es nicht, über sich selbst zu sprechen, sie konzentrierte sich unlöslich, betrübt – insgesamt entzog sich dem gesprochenen Wort das Wesentliche, das schließlich in dem Gefühl lag, wirklich erlebt zu haben, was sie erzählt hatte; die feine, pausenlose Unentschlossenheit eines Lebens schien in der Beziehung zu demjenigen zu bestehen, der es lebte, in dem intimen Bewusstsein seiner Berührung. Manchmal gelang ihr etwas Vergleichbares mit sich. Das war jedoch eine Freiheit, die einfach war und fast erfahren, ein Prozess von Freiheit – eine Macht, von der Gebrauch gemacht wurde, und nicht etwas, das schon voranschritt, während es entstand; der Unterschied zwischen dem, was jemand in die Luft schleuderte, und dem, was von alleine flog. Das eine oder andere Mal freilich gelang es der Nachahmung, wahrhaftiger zu sein als das von ihr nachgeahmte Ding, und sie offenbarte dieses gleichsam für einen Moment. Es war eine Form von Erinnerung, die sie da erlangte.
    Ach ja, wie gerne hätte sie sich vorwärts in die Zukunft begeben, damit die Gegenwart endlich Vergangenheit wäre

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