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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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den erwarteten Ärger, etwas warf sie schlicht auf sich selbst zurück, in einer schnellen Ohnmacht des Wünschens. Genügsam unterhielt sie sich mit der alten Frau, zugänglich, fast leichtfertig, tauschte sich mit ihr sogar über die Wohn- und Einkaufssituation aus, über verwerfliche Lebensweisen. Unerklärlich wandte sie sich der Frau zu, als wäre diese eine alte Bekannte, zeigte sich unvermittelt weiblich und beschäftigt, spürte dabei ohne Widerwillen an ihren bloßen Beinen die Reibung des langen Rocks; sie bemühte sich auf undeutliche Weise lustvoll um ihre Sympathie und ihr Mitgefühl. Die Alte zog ihr hageres Gesicht zurück, in gewisser Weise gekränkt und überrumpelt, da sie kaum den Mund zum Sprechen aufbekam, ausgerechnet sie, die sich sonst mit zusammengekniffenen Augen über die anderen beugte und sie mit ihren Neuigkeiten erdrückte.
    »Sie können sich ja denken, wie es in einer großen Stadt zugeht«, überschrie Virgínia den Lärm der Straßenbahn auf den Gleisen, »das macht den Menschen einfach müde! Und wie teuer die Wohnungen hier sind, nicht wahr? Und manchmal so klein! Wissen Sie, ich wohne ja in einem relativ billigen Gebäude, Gott sei Dank, aber die anderen sind furchtbar. Wirklich furchtbar! Ach, Sie hören nichts wegen der Straßenbahn.« Das Fahrzeug blieb kurz an einer Haltestelle stehen, und die Alte erkundigte sich trocken, in einem Versuch, die Führung des Gesprächs zu übernehmen, ob sie alleine wohne. »Ja, schon, aber im Haus herrscht die beste Moral, die man sich denken kann«, sagte Virgínia erschrocken. »Stellen Sie sich vor, in der Stadt – das habe ich in einer Pension gehört, in der ich früher wohnte – sind die Mädchen, die äußerlich den besten Eindruck machen, in Wahrheit das Schlimmste überhaupt – schrecklich, nicht wahr?«, lachte sie. »So etwas erfährt man wirklich nur, wenn man hier lebt.«
    Als die Alte sich hastig und kühl von ihr verabschiedete, frustriert, den eigenen Klatsch nicht losgeworden zu sein, drückte Virgínia ihr die Hand so überschwänglich, als wäre sie verlassen.
    »Alles Gute, ja? Alles Gute für Sie und Ihre Schwester!« Die alte Frau entfernte sich verblüfft, auf einmal bezaubert und lächelnd, und Virgínia blieb einen Moment lang stehen, die Augen geöffnet, aufmerksam, nachdenklich. Daniel … wie hätte Daniel sie verurteilend angesehen; aber was hätte er denn verurteilt?, fragte sie sich. Und was geschehen war, betraf in einem solchen Maß nur eine Stille und eine Empfindung, dass sie begriff, wie schwer sie das Daniel hätte vermitteln können; so war es ihr lieber, ihn nicht an ihrer Seite zu haben, mit einem Mal zog sie es vor, allein zu sein – sie kauerte sich in einen Winkel der Straßenbahn; denn alleine konnte sie sich erschöpfen; die lebendigsten Dinge hatten nicht einmal eine Bewegung, in die man sie hätte kleiden können, es war unmöglich, sie zu verwirklichen; wenn man es versuchte, scheiterte man nicht nur, sie selbst starben dann fassungslos. Und zwei Menschen mochten noch so schweigsam sein, am Ende würden sie doch sprechen. Wenn aber die drei Tage pro Woche endlich da wären, würde sie vor Freude aufstehen, weil sie endlich gefangen war.
    Manchmal stieß ein jäher Wunsch, eingehüllt in eine Welle von frischem und antreibendem Glück, ein jäher Wunsch, etwas zu formen, einen kleinen Überraschungsschrei in ihrem Herzen aus. Dann klappte sie das Köfferchen mit den Töpfersachen auf, tauchte die Figuren ohne zu zögern in heißes Wasser, um sie aufzulösen und Material für neue zu erhalten. Sie arbeitete in einer glücklichen Konzentration, die ihrem Gesicht die alte nervöse Transparenz wiedergab. Die Puppen setzten indessen den Stil derer fort, die sie noch in der Kindheit geformt hatte. Grotesk, ernst und ohne Bewegung, mit feinen, unabhängigen Zügen, Virgínia drückte hartnäckig immer dasselbe aus, ohne es zu verstehen. Sie neigte den Kopf und wuchs gleichsam weiter.
    Im Laufe der Zeit war in ihr ein geheimes, aufmerksames Leben geboren; sie unterhielt sich im Stillen mit den Gegenständen in ihrer Umgebung, eine Art beharrlicher und unbemerkter Tick, der allerdings nach und nach zu ihrer innersten und wahrsten Seinsweise wurde. Bevor sie etwas tat, »wusste« sie, dass »etwas« dem entgegenwirken würde oder dass eine leichte Welle es zuließe; sie hatte einen so ausgeprägten Lebenswillen, dass sie abergläubisch geworden war. Sie war in ihr eigenes Reich eingetreten. Die

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