Der Lüster - Roman
und sie von neuem versuchen könnte, sie zu begreifen, als ob dieses aussichtslose Spiel sie riefe, Laster und Rätsel zugleich. Sie bemühte sich, aufrichtig zu sein, als wäre das der richtige Weg, um die Wirklichkeit zu sehen; nie hätte sie ihr Leben zusammenfassen können, wie es jetzt war, es sei denn als bloße Aneinanderreihung von Umständen, und ohne zu ihren Empfindungen durchzudringen. Dreimal pro Woche konnte sie zu Vicente gehen und ihn lieben, denn dreimal pro Woche reichte er bei den Zeitschriften ein, woran er arbeitete dreimal pro Woche. Die übrigen Tage waren eine große weiße Pause. Sie wachte auf, trank Wasser, setzte sich ins Wohnzimmer, in dem geblümten Morgenmantel, der an den Brüsten und hinten aufklaffte – die Mutter, die Mutter, die durch sie hindurch wieder an die Oberfläche kam. Sie ging auf und ab, unschlüssig, was sie mit sich anfangen sollte, als hätte sie mehr Körper als notwendig. Sie nahm fast nichts zu sich. Aber auf einmal verfiel etwas in ihr, und ihr Wesen verschlang mit großem Genuss, vehement und gemein Pralinen, Süßes, stark gewürzte Speisen – sie, die sie immer anspruchslos gewesen war wie eine Pflanze. Wenn sie einen ganzen Tag an eine Speise gedacht hatte, die irgendwo weit weg verkauft wurde, entschloss sie sich, auszugehen und sie zu besorgen, und dann gewann sie an Lebendigkeit. Sie brachte die Speise nach Hause, bebend vor Ungeduld, und schlang sie hinunter. Mit leeren, müden, leicht fassungslosen Augen fiel sie in einen schweren Schlaf. Seit Vicente hatte sie weiter zugenommen, und da sie recht großgewachsen war, zeigte sich ihr Körper jetzt mit doppelter Kraft, fester. Die Taille zeichnete sich deutlich ab, ihre Haut, nicht mehr so trocken und golden von der Sonne, erstreckte sich geschmeidig und weiß – sie war breiter in den Hüften, sie war jetzt eine Frau. Aber ihr Gesicht hatte den vagen Schimmer verloren. Sie strahlte immer noch Ruhe aus und etwas leicht aus der Mode Gekommenes, wie eine frisch Zugezogene. Nur wenn sie Weiß trug, gab ihr das eine städtische Note, und da sie das spürte, reservierte sie die Farbe für besondere Anlässe. Doch ohne die Spaziergänge, ohne Raum für ein Leben, das sich hätte ausdehnen können, lebte sie müde vor sich hin. Während ihre Hände zerstreut auf dem Tisch spielten, malte sie sich sogar aus, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie starb: Eine Kraft zog sie beständig zur Erde hin, und der Schlaf änderte nichts, sie kam darin nicht zur Ruhe. Ihr war, als hätte sie schon alles erlebt, wobei sie nicht hätte sagen können, wann. Gleichzeitig aber schien ihr ganzes Leben in einer kleinen, nach vorne gerichteten Geste aufzugehen, einer leichten Kühnheit und anschließend einem sanften Rückzug ohne Schmerz und dann kein Weg, dem man sich hätte zuwenden können – ohne sich direkt am Boden niederzulassen, in einem Schwebezustand fast ohne Trost, fast tröstlich, mit der Ermattung, die dem Schlaf vorausgeht. Doch um sie herum lebten die Dinge manchmal mit solcher Gewalt. Die Sonne war Feuer, die Erde fest und möglich, Pflanzen sprossen lebendig, zitternd, eigensinnig, Häuser wurden gebaut, in denen sich Körper bargen, Arme schlangen sich um Taillen, für jedes Wesen und jedes Ding gab es ein anderes Wesen und ein anderes Ding in einem Bund, der ein glühendes Ende war ohne etwas, das darüber hinausginge. In Wirklichkeit jedoch besaß sie eine eigene Harmonie, ja, ja, ja, wie eine Blume, die ein Ganzes bildet mit ihren Blütenblättern. Was nichts daran änderte, dass aus ihrem Herzen manchmal die Verzweiflung der Dinge erstand, die sie nicht war, und sie allzu sehr von dem erfüllt wurde, was sie nie besessen hatte, so begierig und neidisch war sie seit jeher.
Als sie von Vicente zurückgekommen war, hatte sie sich unwohl gefühlt, ihr tat alles weh, und sie musste sich übergeben, die Augen geweitet und traurig. Am zweiten Tag der Erkrankung stieg das Fieber. Besonders neidisch fühlte sie sich nicht mehr. Sie betrachtete sich im Spiegel, sah ihre glitzernden, unbeweglichen Augen, die einen Spalt weit geöffneten Lippen. Der Atem brannte ihr in der Brust, keuchend und flach. Sie war im Begriff, zurück an den Tisch zu gehen und sich hinzusetzen, doch dann lief sie in einer plötzlichen, fast zornigen Bewegung ins Schlafzimmer, kleidete sich an und verließ das Haus, die Gesten zu einem einzigen Impuls vereinigt durch das Fieber, das ihr keine Möglichkeit ließ, den Zeitverlauf
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