Der Lüster - Roman
sich dabei geschäftig und aufgeregt.
»Hast du keinen Vater und keine Mutter?«, fragte ein blondes Mädchen im weißen Batistkleid und mit einem feingeschnittenen, schmalen, klaren Gesicht. Auf Virgínias Miene machte sich tiefe Überraschung breit.
»Doch, natürlich«, sagte sie zu der Kleinen, nickte dazu fiebrig und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Und warum kümmern sie sich nicht um dich?«, erkundigte sich überrascht die kräftige Dunkle.
»Ach, die wohnen weit weg, deshalb …«
»Ah, ich weiß schon«, sagte der Junge, als wäre ihm ein Licht aufgegangen, »ich weiß, du hast kein Geld, um zurück nach Hause zu fahren!«
»Warum zurück nach Hause? Was weißt du denn davon?«, fragte Virgínia.
»Grade gestern hatte das Hausmädchen kein Geld zum Heimfahren«, sagte der Junge mit einem gewissen Stolz.
»Ach so, ja.« Virgínia schien nachzudenken.
»Und? Hast du dich jetzt entschieden?«, fragte das älteste Mädchen, das dünne.
»Ja, ich habe mich entschieden, ich fahre nach Hause …«, sagte Virgínia und betrachtete die Kinder mit verhohlener Wut. »Ich fahre nach Hause, ich fahre nach Hause. Und, kann ich jetzt gehen?«, erkundigte sie sich unsicher, fast schüchtern. Die Mädchen zeigten sich überrascht und warfen ihr schnelle Blicke zu, ohne zu antworten. Die Dunkle schüttelte ihre Zöpfe:
»Wer hindert dich denn daran?«
Die anderen fielen ein: »Genau, ha!« Sie lachten ein wenig, die Nase krausziehend in der plötzlichen Sonne, die durchgebrochen war. Virgínia stand auf, die Kinder hatten jetzt die Köpfe erhoben, eine Hand an der Stirn zum Schutz gegen das Licht, sie wichen zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen. Sie sagte:
»Na gut, auf Wiedersehen.« Aber sie zögerte, als wäre es gefährlich, sich zu entfernen. Einige der Kinder gaben zurück: »Auf Wiedersehen«, die kleine Blonde fasste Virgínia noch einmal fest am Arm. Diese tat ein paar Schritte, da lief der Junge hinter ihr her und rief:
»He! Du da! Das Hausmädchen hat gesagt, wenn sie heimfahren kann, kauft sie die Fahrkarte drüben an dem gelben Bahnhof, weißt du, das große Gebäude …«
Virgínia war stehengeblieben und hörte schweigend zu. Der Junge hatte nichts mehr hinzuzufügen und wartete. Er wirkte mit einem Mal gelangweilt:
»Also, das wollte ich halt sagen …!«
»Ja, ja, vielen Dank, wirklich vielen Dank …«
Kurz darauf kam sie an einer Bank vorbei, auf der eine Dame saß, im blauen Kleid, ohne Hut und mit einer großen Handtasche, anscheinend wollte sie ihr etwas sagen. Sie blieb stehen, neigte den Kopf: Ach, ja, die Dame hatte der Szene beigewohnt, aber nichts gehört, und nun erkundigte sie sich aus reiner Neugier, mit einer gewissen vertraulichen, boshaften Gespanntheit, was vorgefallen sei.
»Die Welt ist voller ungezogener Kinder«, sagte sie zum Zeichen dafür, dass sie für alles Verständnis aufbringen würde, was Virgínia ihr zu erzählen hätte.
»Ja«, sagte Virgínia und ging weiter. Der Park erstreckte sich in breiten waagrechten Linien, der Rasen wogte unter den dahintreibenden Schatten der Zweige, die Luft war weit und klar, auf sanfte Weise elektrisch. Und plötzlich begannen laue Regentropfen zu fallen. Sie stellte sich unter eine Markise, zusammen mit einem dicken, herzkranken alten Mann, der langsam und keuchend atmete, mit Schrecken und Mühe, die Augen auf den Regen geheftet wie auf ein unabwendbares Unheil. Es fielen weiche, dicke, lautlose Tropfen, und sie füllten den Raum mit langen und glänzenden Strichen.
Tags darauf, ja, es war in dieser Zeit gewesen, ging sie zu dem jungen Arzt. Er machte sich einen Spaß daraus, sie nachzuahmen. Mit gespielter Väterlichkeit trat er ganz nahe an sie heran, drückte sein Gesicht mit dem Dreitagebart an ihre Wange, während er die andere Wange tätschelte … und während sie, überrascht und konfus, sich fast gut fühlte, sehr gut sogar – er war groß und blass, und Frauen galten ihm nichts. Er trug einen Ehering; wie hätte man je erraten sollen, in welchem Verhältnis er zu der Gattin stand? In dem ruhigen weißen Sprechzimmer näherte er sich weiter, und sie blieb auf der Liege sitzen, auf der er sie zügig untersucht hatte. Er habe zwei Nächte nacheinander Geburten gehabt, hatte er eingangs taktvoll und feierlich gesagt, er sei nicht einmal dazu gekommen, sich zu rasieren, sagte er, während sie den Hut abnahm und sorgfältig die Haarnadeln entfernte. Und nachdem er sie untersucht hatte,
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