Der Lustmolch
Chloe wird schon wieder. Kann sogar sein, daß ihre Schreibmaschinenkenntnisse besser werden.«
Estelle spürte, daß Dr. Val keinen besonders guten Tag hatte, und beschloß, kein weiteres Wort über die Sprechstundenhilfe in Grillhandschuhen zu verlieren. »Danke, daß Sie mir so kurzfristig einen Termin geben konnten. Ich weiß, es ist schon eine Weile her seit unserer letzten Sitzung, aber ich hatte das Gefühl, daß ich wirklich mal mit jemandem reden muß. Mein Leben ist in der letzten Zeit ein wenig durcheinandergeraten.«
»Das ist im Augenblick nicht weiter ungewöhnlich«, sagte Dr. Val und kritzelte gedankenverloren auf ihrem Block herum. »Was gibt's denn?«
»Ich habe einen Mann getroffen.«
Erst jetzt hob Dr. Val den Blick. »Sie haben was?«
»Er ist Musiker. Ein Bluesman. Er ist im Slug aufgetreten. Da habe ich ihn auch getroffen. Wir sind, na ja, also seit zwei Tagen wohnt er bei mir.«
»Und was empfinden Sie angesichts dessen?«
»Es gefällt mir. Ich mag ihn. Seitdem mein Mann gestorben ist, war ich mit keinem Mann mehr zusammen. Ich dachte, ich hätte das Gefühl, als ob ich ihn betrüge. Aber so war's nicht. Ich fühle mich prima. Er ist witzig, und er strahlt, ich weiß auch nicht, eine gewisse Weisheit aus. Als ob er schon alles gesehen hat, aber trotzdem nicht zynisch geworden ist. Irgendwie scheint's, als ob die Härten des Lebens ihn eher amüsieren. Im
Gegensatz zu den meisten anderen Leuten.«
»Aber was ist mit Ihnen?«
»Ich glaube, daß ich ihn liebe.«
»Liebt er Sie?«
»Ich glaube schon. Aber er sagt, daß er von hier weggehen wird. Das ist es, was mich stört. Es hat ewig gedauert, bis ich mich endlich damit abgefunden habe, alleine zu leben, und jetzt, wo ich doch jemanden gefunden habe, wird er mich verlassen, weil er Angst vor einem Seeungeheuer hat.«
Valerie Riordan ließ ihren Stift fallen und sackte auf ihrem Stuhl zusammen - alles andere als professionell, dachte Estelle.
»Wie bitte?« sagte Val.
»Ein Seeungeheuer. Wir waren vor ein paar Tagen abends am Strand, und irgendwas tauchte aus dem Wasser auf. Etwas ziemlich Großes. Wir sind zum Wagen gerannt, so schnell wir konnten, und später hat Catfish mir erzählt, daß er unten im Delta schon mal von einem Seeungeheuer verfolgt worden ist und daß es jetzt wieder hinter ihm her wäre. Er sagt, er will nicht, daß andere Leute darunter zu leiden haben, aber ich denke, er hat einfach nur Angst. Er denkt, das Monster kommt solange wieder, wie er sich in der Nähe der Küste aufhält. Deswegen versucht er jetzt ein Engagement in Iowa zu bekommen, so weit weg von der Küste, wie's nur irgendwie geht. Glauben Sie, daß er Bindungsängste hat? Darüber liest man doch andauernd in irgendwelchen Frauenzeitschriften.«
»Ein Seeungeheuer? Ist das eine Metapher für irgendwas? Irgendein Blues-Begriff, den ich nicht kapiere?«
»Nein, ich denke, es handelt sich um ein Reptil, zumindest, so wie er es beschreibt. Ich konnte es nicht so gut sehen. Es hat seinen besten Freund gefressen, als er noch ein junger Mann war. Ich denke, er rennt vor seiner Schuld davon. Was glauben Sie?«
»Estelle, Seeungeheuer gibt es nicht.«
»Catfish hat mir gleich gesagt, daß niemand mir glauben würde.«
»Catfish?«
»So heißt er. Mein Bluesman. Er ist furchtbar süß. Er hat so eine galante Art, die man nicht mehr allzu häufig findet, und ich glaube nicht, daß es bei ihm einfach nur eine Masche ist. Für so was ist er zu alt. Ich hätte nie geglaubt, daß ich jemals wieder so etwas empfinden könnte. Es sind Gefühle wie bei einem Mädchen, nicht wie bei einer Frau. Ich will den Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Ich will die Großmutter seiner Enkel sein.«
»Enkel?«
»Sicher, vom Fusel und den flotten Weibern konnte er früher auch nicht die Finger lassen, aber ich denke, allmählich ist er soweit, daß er's ein bißchen langsamer angehen will.«
»Fusel und flotte Weiber?«
Es klang fast wie eine Fuge: Dr. Val war so verwirrt, daß sie, wie von einem psychiatrischen Autopiloten gesteuert, unfähig war, irgend etwas anderes zu tun, als alles, was Estelle sagte, in Frageform nachzuplappern wie ein Papagei. Doch was Estelle brauchte, war mehr als das.
»Glauben Sie, ich sollte die Behörden verständigen?«
»Wegen dem Fusel und den flotten Weibern?«
»Wegen dem Seeungeheuer. Immerhin wird der kleine Plotznik vermißt, wie Sie vielleicht wissen.«
Dr. Val zupfte mit großer Geste ihre Bluse zurecht. Sie bemühte
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