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Der Maedchenmaler

Der Maedchenmaler

Titel: Der Maedchenmaler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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ihrer Mutter. Anne Helmbach legte den Kopf ein wenig zur Seite. Doch das bedeutete nur, dass sie die Berührung wahrnahm und genoss.
    »Mike ist in eine Wohngemeinschaft gezogen«, erzählte Ilka, obwohl die Ąrzte ihr oft genug erklärt hatten, dass der Inhalt ihrer Worte ihre Mutter nicht erreichte. »Er wohnt da jetzt mit zwei sehr netten Mädchen zusammen. Die eine heiߟt Merle, die andere Jette. Sie haben zwei Katzen, Donna und Julchen, die sind aus einem Versuchslabor befreit worden. Merle ist nämlich Tierschützerin, weiߟt du?«
    Anne Helmbach sah an Ilka vorbei irgendwohin. Ihr Lächeln war verblasst. Es hatte sich von ihrem Gesicht entfernt und nur einen leisen Schatten zurückgelassen. Lauschte sie bloߟ dem Klang von Ilkas Stimme oder hörte sie zu?
    »Ich hätte Mike gern mitgebracht, aber ich dachte, es ist noch zu früh. Vielleicht lernst du ihn später mal kennen.« Ilka spürte Tränen in der Kehle. Sie schluckte. »Du wirst ihn mögen, das weiߟ ich. Und er dich auch.«
    Sie legte die Hand auf den Arm der Mutter, fühlte die weiche Wolle der Strickjacke wie einen Trost. Und darunter die Knochen. Ihre Mutter war mager geworden. Obwohl sie sich so wenig bewegte. Ihre Handgelenke waren wie die eines Kindes. Die Hände waren immer noch schön. Sie waren wie Rubens Hände, lang und schmal, die Finger ganz gerade.
    Anne Helmbach schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Sie runzelte die Stirn. So hatte sie früher ausgesehen, wenn sie Musik gehört hatte. Als hätte etwas an der Musik ihr Schmerzen bereitet.
    Vielleicht hörte sie ja jetzt auch Musik. In ihrem Kopf. Wer wusste schon, was im Kopf eines Menschen alles eingeschlossen war. Musik und Bilder und Worte und Gefühle. Freude. Angst. Auch Hoffnung? Sehnsucht? Hatte die Mutter noch eine Erwartung an irgendwas?
    Ilka beugte sich zu ihrem Rucksack hinunter und hob ihn auf den Schoߟ. Sie zog eine Tafel Schokolade daraus hervor. Zartbitter, die mochte ihre Mutter am liebsten. Sie stellte den Rucksack wieder unter den Tisch, löste das Papier an der Klebestelle und knickte einen Riegel ab. Anne Helmbach erkannte das Geräusch. Sie öffnete die Augen und schaute die Schokolade an, dann Ilka. Sie nahm den abgebrochenen Riegel und biss davon ab.
    Sie hatte die Wirklichkeit aus ihrem Leben ausgeschlossen. Damals, als der Unfall passiert war. Von einem Tag auf den andern war sie verstummt. Kein einziges Wort hatte sie seitdem gesprochen. Ąrzte und Psychotherapeuten hatten sich ihrer angenommen. Sie hatten sie immer wieder untersucht, ständig neue Tests mit ihr gemacht. Anne Helmbach hatte auf all das nicht reagiert.
    Nach einer Weile war sie in diesem Heim untergebracht worden, wo man sich um sie kümmerte, sie pflegte und weiterhin versuchte, sie in das wirkliche Leben zurückzuholen. Aber was hieߟ das schon? Wirklich. Unwirklich. Gab es nicht Zwischenbereiche? Hielt ihre Mutter sich in einem von ihnen auf?
    »Hättest du nicht mal Lust auf eine andere Sorte?«, fragte Ilka. »Haselnuss, Mandelsplitter oder Trüffel? Es gibt sogar Weihnachtsschokolade, die schmeckt nach Zimt und Anis.«
    Es gab Menschen, die aus einer solchen Erstarrung wieder aufgewacht waren. Ilka hoffte darauf, dass es mit ihrer Mutter genauso sein würde. Irgendwann. Und wenn es erst in zehn Jahren passierte. Sie vermisste sie. Ihre Stimme, ihr Lachen, ihren Trost.
    Was man sehen konnte, war nur die Hülle. Keiner wusste, was sich darunter verbarg. Manchmal fragte Ilka sich, ob die Hülle nicht vielleicht leer war. Ob das, was die Mutter ausgemacht hatte, sich nicht längst aufgezehrt hatte und verschwunden war.
    Anne Helmbach aߟ die Schokolade langsam und bedächtig. Dann faltete sie die Hände im Schoߟ und schaute zum Fenster. Sie bewohnte ein Zimmer im Erdgeschoss, mit Blick auf einen parkähnlichen Garten. Im Frühjahr entfalteten die Rhododendren ihre Farbenpracht, danach blühten bis in den Winter hinein die Rosen und Dahlien. Es gab auch einen groߟen Seerosenteich, in dem Goldfische schwammen.
    Ein Platz in einem solchen Heim war kostspielig. Tante Marei und Onkel Knut hatten ihn beschafft. Ilkas Eltern waren wohlhabend gewesen. Der Vater hatte die Mutter gut versorgt zurückgelassen. Vielleicht gab auch Ruben einen Teil dazu.
    ßœber ihn wurde nicht geredet. Nicht mal sein Name wurde erwähnt. Es war ein unausgesprochenes Gesetz, an das sich alle hielten. Die Zwillinge schienen sich gar nicht mehr an ihn zu erinnern, so endgültig war er

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