Der männliche Makel: Roman (German Edition)
überhaupt an seine Mum erinnern? Daran, was für ein lebensfroher, fröhlicher, wundervoller und warmherziger Mensch sie gewesen war? Seitdem erzählte Ben ihm jeden Tag, wie sehr seine Mummy ihn geliebt hatte, dass sie ihm vom Himmel aus zusah und dass sie sehr stolz auf ihn war. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass der Junge seine Mutter vermisste und sehr darunter litt. Das war ja nur natürlich.
Er warf einen letzten Blick auf Susans Foto, um sich Mut zu machen, und ging dann hinaus in den Garten, um die Hiobsbotschaft so schonend wie möglich zu überbringen.
Kapitel fünfzehn
Seltsam, doch rückblickend sollte Eloise diesen unwirklichen Moment betrachten, als sei eigentlich nicht sie selbst dabei gewesen, sondern ein Avatar, der für einen Tag in ihre Haut geschlüpft war. Es dauerte ziemlich lange, bis sie den Ablauf der Ereignisse überhaupt rekonstruieren, geschweige denn verarbeiten konnte. Allerdings war sie ziemlich sicher, dass der Albtraum in den frühen Morgenstunden begonnen hatte, als sie in ihrem Büro saß, den Leitartikel für den nächsten Tag heruntertippte und dabei gleichzeitig fünf andere Dinge tat.
Dann: ein Klopfen an der Tür. Sir Gavin höchstpersönlich, leger mit einem Golfpulli und einer Stoffhose bekleidet, als hätte man ihn überraschend vom Golfplatz geholt und wegen eines Notfalls in die Redaktion geschleppt. Sofort schrillte in Eloises Kopf eine Alarmglocke. Was zum Teufel wollte er hier? Morgens war er fast nie im Büro und sogar dafür berüchtigt, dass er, wenn möglich, bis zur Mittagspause einen großen Bogen um das Gebäude machte. Noch besorgniserregender war, dass die Tyrannosaurier sie erst gestern zum wöchentlichen Rapport einbestellt und ihr die Hölle heißgemacht hatten. Warum wollte er sie heute also schon wieder sprechen? Und warum rief er sie nicht an und zitierte sie nach oben in die Chefetage wie üblich?
Außerdem sprach er sie nicht mit Madame Editrix an.
Ein. Sehr. Schlechtes. Zeichen.
»Kommen Sie herein, setzen Sie sich«, brachte sie einigermaßen ruhig heraus, auch wenn ein leichtes Händezittern verriet, wie nervös sie war.
»Wir müssen miteinander reden«, begann Sir Gavin, während er sich in den Sessel ihr gegenüber sinken ließ. Er hatte eine Zeitung unterm Arm, die er nun gespielt beiläufig auf seinem Schoß ausbreitete. Ärgerlicherweise mit der Schlagzeile nach unten, sodass Eloise sie nicht lesen konnte. Allerdings war sie ziemlich sicher, dass es sich um den Chronicle , das Konkurrenzblatt, handelte.
Was wollte Sir Gavin damit?
»Nur eine kleine Unterredung unter vier Augen, Eloise, ehe sich der Vorstand mit Ihnen befasst. Ich fand, das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann.«
Oh mein Gott, dachte sie. Das ist ja noch viel schlimmer, als ich geglaubt habe.
»Sagt Ihnen der Name Michael Courtney etwas?«
Sie nickte wortlos. Plötzlich wurde ihr flau im Magen, denn ihre jahrelange Erfahrung verriet ihr, worauf er hinauswollte.
»Es ist mir zu Ohren gekommen …«
Durch Seth Coleman natürlich, dachte sie geistesgegenwärtig wie immer. Wer sonst sollte ihr so etwas antun?
»… dass Sie aus irgendwelchen persönlichen Gründen einen Artikel über ihn haben sterben lassen, Eloise. Was haben Sie dazu zu sagen?«
Sie biss sich auf die Zunge und war nicht sicher, wo sie anfangen sollte. Sir Gavin kannte die ganze Wahrheit, davon war sie überzeugt. Jemand hatte sie ihm eingeflüstert. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Weil«, stammelte sie verlegen, »mir die Geschichte zu diesem Zeitpunkt nicht ausreichend nachrichtenwürdig erschien.«
Eine faule Ausrede. Dass er das wusste, wurde ihr klar, sobald sie die Worte ausgesprochen hatte.
»Nicht nachrichtenwürdig?«, wiederholte er und musterte sie kühl. »Der Bandenchef, der den Großteil des Heroinhandels in dieser Stadt kontrolliert? Dessen Terrorregime auf derselben Ebene anzusiedeln ist wie die Entführung von Tigern, Banküberfälle und Kunstdiebstahl? Und Sie als Chefredakteurin halten das nicht für nachrichtenwürdig?«
Eloise konnte sich nicht erinnern, dass sie sich je so klein gefühlt hatte. Sie musste wenigstens versuchen, sich zu verteidigen, aber wie? Schließlich war er über alles informiert, und es war nicht schwer zu erraten, wem sie das zu verdanken hatte.
»Wie ich bereits sagte, Sir Gavin«, erwiderte sie mit dünner Stimme, »hatte ich vor, den Fortgang des Prozesses im Auge zu behalten. Doch zum
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