Der männliche Makel: Roman (German Edition)
nur darüber, wie ihr Tag gewesen war. Und wenn sie das Jammern und Klagen wieder einmal nicht lassen konnte, hatte er sie aus ihrem Tief geholt, indem er sie zum Lachen brachte und ihr das Gefühl vermittelte, nicht allein gegen die ganze Welt zu stehen. Aus und vorbei, seufzte sie bedrückt ins leere Zimmer hinein. Aus und vorbei, und sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Ihr Verstand hatte sich inzwischen damit abgefunden.
Sie wünschte nur, jemand würde es auch ihrem Herzen begreiflich machen.
»Weißt du, was dich ein bisschen aufheitern würde?« Ruth versetzte Elaine einen spielerischen Rippenstoß, als sie am Konferenztisch Platz nahmen, wo sich alle Redakteure schon mit ihren Aktenkoffern, Notizbüchern, iPhones, iPads und Starbucks-Bechern häuslich eingerichtet hatten und darauf warteten loszulegen.
»Und das wäre?«
»Eine leidenschaftliche Nacht mit deinem tollen Typen. Dann wärst du sicher gleich nicht mehr so blass um die Nase.«
Eine halbe Stunde später nahm die Rohfassung der morgigen Titelseite allmählich Gestalt an. Nachdem Robbie lautstark die Werbetrommel dafür gerührt hatte, würde die
Titelstory die Vorwahlen der Republikaner in Washington behandeln, gefolgt von einem Artikel zum Thema Zinspolitik, die der Finanzredakteur Jack Dundon, wie immer die einzige Stimme der Ruhe in einem Raum voller durcheinanderschreiender Journalisten, eingebracht hatte.
Eloise machte sich mit Feuereifer an die Arbeit und hatte in weiteren zwanzig Minuten auch das Politikressort abgehakt. Der Bericht handelte von einem Minister, der während des Immobilienbooms der Korruption verdächtigt worden war, weshalb man ihn gut im Auge behalten musste. Allerdings hatte Eloise den Eindruck, dass sich der Inhalt dieses Artikels nun schon seit drei langen Jahren wiederholte. Herrje, meinte sie zu den übrigen Anwesenden, hat der Mann denn keinen Funken Verstand? Merkt er denn nicht, dass er sich, um endlich einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen, öffentlich von seiner Vergangenheit distanzieren muss? Und dann sollte er seinen Parteifreunden eine Strategie zur Wiedergutmachung vorschlagen. Dazu braucht man doch kein Genie zu sein. So etwas nennt man Vergangenheitsbewältigung. Beifälliges Gebrummel und Nicken am Tisch, worauf Eloise zum nächsten Thema überging.
Wie schön wäre es, wenn einfach ein Außenstehender auf der Bildfläche erscheinen und mein Leben überarbeiten würde, schoss ihr durch den Kopf, als sie die Hand nach dem nächsten Stapel Unterlagen ausstreckte. Warum kann nicht eine höhere Macht an irgendeinem Konferenztisch im Himmel entscheiden, was ich genau tun soll, um aus meiner privaten Misere herauszukommen, und mir die nötigen Marschbefehle geben? Ich wünschte, da oben wäre jemand, der sich wirklich für mein Schicksal interessiert und mir erklärt, wie meine »Vergangenheitsbewältigung« aussehen muss.
Ziemlich unwahrscheinlich, dachte sie seufzend laut und bemerkte plötzlich, dass es beängstigend still im Raum geworden war. Alle starrten sie an, denn dass sie geistig abschweifte, kam sonst nie vor.
Und so nahm sie sich zusammen und wandte sich den Inlandsthemen zu. An diesem Tag war nicht viel vorgefallen. Der Aufmacher war eine Verlautbarung des Justizministers, der die gewalttätigen Ausschreitungen während einer Parade der protestantischen Bruderschaft Apprentice Boys im nordirischen Derry scharf verurteilte. Allerdings hatten sie bereits in allen Einzelheiten darüber berichtet, und obwohl Ruth auf den Tisch schlug und lautstark eine halbe Seite forderte, wollte Eloise sich mit dem nächsten Punkt befassen.
»Und was tut sich bei Gericht?«, erkundigte sie sich.
»Heute nicht viel, aber die nächsten Tage müssten interessant werden«, erwiderte Joe McHugh, Gerichtsreporter und bei Weitem der Älteste im Raum.
Joe war Ende sechzig, weißhaarig und ein Journalist der alten Schule, der bei der Post bereits unter sage und schreibe fünf Chefredakteuren gedient hatte. Da er sich standhaft weigerte, in Rente zu gehen, hatte man ihn mit der Beobachtung von Gerichtsverfahren beauftragt, eine Aufgabe, die es ihm ermöglichte, seine Stundenzahl zu reduzieren und trotzdem seine Stelle zu behalten. Niemand, nicht einmal die mächtigen Tyrannosaurier, brachten es übers Herz, ihn aufs Abstellgleis zu schieben, denn immerhin arbeitete er nun schon seit fast fünfzig Jahren hier. Die Gerichte tagten nur sieben Monate im Jahr, und außerdem brauchte er nicht mehr als zwei
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