Der männliche Makel: Roman (German Edition)
Journalisten auf Tätigkeiten wie diese herab und strafen sie mit Verachtung. Aber ganz gleich, ob es einem nun passt oder nicht, jeder muss diese Lehrzeit durchlaufen. Man muss sich erst beweisen, bevor man gemütlich an einem Schreibtisch sitzen und dort seine Artikel verfassen darf. Und das Seltsamste daran ist, dass mir gar nicht klar war, wie sehr ich diese Jahre vermisse. Rückblickend betrachtet erscheinen sie mir beinahe sorglos. Das aufregende Gefühl, wenn man einer Story auf den Fersen war und versuchte, die Leute dazu zu überreden, ihren Namen anzugeben. Dann hastete man zurück in die Redaktion, um den Artikel vor Redaktionsschluss dem zuständigen Redakteur vorzulegen. Und schließlich die Begeisterung, ihn gedruckt zu sehen. Dazu den eigenen Namen unter der Zeile »redaktionelle Mitarbeit«.
Natürlich musste ich damals wie alle anderen Anfänger in der Stadt über die endlos langen Arbeitstage jammern und klagen. Doch wenn ich jetzt zurückdenke und diese Zeit mit dem Hamsterrad vergleiche, in das sich mein Leben inzwischen verwandelt hat, sage ich mir: Mein Gott, was war das damals schön. Ich habe es nur nicht geahnt. Das Beste am Erfolg ist manchmal nicht das Ankommen, sondern der Weg dorthin.
»Nein, Schätzchen«, beschwichtigt Helen Lily am Telefon. »Schokopudding gibt es erst, wenn du deine Nudeln aufgegessen hast wie ein braves Mädchen. Eloise, bist du noch dran? Entschuldige.« Ihre Stimme klingt nun deutlicher, als sie wieder an den Apparat kommt. »Also, was tut sich bei dir? Irgendwas gefunden?«
»Keine Chance«, seufze ich. »Vergiss es.«
»Was soll das heißen? Hast du Bill O’Casey nicht aufspüren können?«
»Doch, schon. Aber es war der Falsche.«
»Woher weißt du das? Hast du ihn gefragt? Haben Alter, Größe und Augenfarbe gestimmt?«
»Oh, das Alter hätte gepasst. Aber er ist eindeutig nicht Lilys Vater.«
»Was macht dich so sicher?«
»Das war nicht so schwierig festzustellen. Er ist nämlich schwarz.«
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Es gibt nur noch eine Spur, der ich folgen kann. Und wenn sie auch in die Irre führt … dann ist Schluss. Ich habe keinen Plan B. Nur eine weitere Adresse in einer Sozialbausiedlung in Darndale, die völlig unpassend alle Blumennamen tragen. Hier herrschen offenbar die schlimmsten Zustände, denn in den anderen Siedlungen standen wenigstens keine ausgebrannten Autos am Straßenrand. Ich muss sogar eine Matratze umrunden, die mitten auf der Straße liegt. Die Häuser sind rings um eine Grünfläche angeordnet, und ich scherze nicht, wenn ich sage, dass es dort aussieht wie auf der ultimativen Müllkippe, von der jeder Umweltsünder träumt. Von Fußball spielenden Kindern fehlt jede Spur. Vermutlich finden sogar sie es zu gefährlich.
Ich gebe Gas, denn ich will meine Mission hinter mich bringen und so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Die Häuser unterscheiden sich nur durch die Graffiti, mit denen die meisten von ihnen besprüht sind. Endlich finde ich das Richtige, halte an, parke, steige entsetzt aus und klopfe, so zartfühlend ich kann, an die Tür.
Botschaft: Vertrau mir. Ich komme weder von einem Inkassounternehmen noch möchte ich deine Möbel pfänden.
Über diesen Bill O’Casey weiß ich am wenigsten. Keine Sozialversicherungsnummer, was merkwürdig ist. Es gibt überhaupt keine Daten über ihn, so als sei er nur eine schemenhafte Gestalt, ein Geist, hinter dem ich herjage. Wer lebt den heutzutage noch ohne Sozialversicherungsnummer?
Ich muss nicht lange warten. Gott sei gelobt und gepriesen, denn ich habe Glück. Die Tür geht auf, und eine uralte Frau steht, gekrümmt von Arthritis, vor mir. Ihre Haut ist dünn wie Pergament, und ihr Haar hat die Farbe von Stahlwolle. Sie wirkt so gebrechlich, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich sie an die Tür geholt habe. Am liebsten würde ich sie wieder ins Haus schieben, sie in eine kuschelige warme Decke wickeln, sie vor einer Seifenoper parken und ihr einen Kaffee machen.
»Wollen Sie den Stromzähler ablesen?«, fragt sie mit leiser Stimme.
»Nein, entschuldigen Sie die Störung …«
»Essen auf Rädern?«
»Ich fürchte, nicht. Ich suche einen gewissen Billy O’Casey. Man hat mir gesagt, dass er hier wohnt. Sie wissen nicht vielleicht zufällig, wo ich ihn finde?«
»Können Sie lauter sprechen?«
»Verzeihung … wissen Sie zufällig, wo ich Bill O’Casey finde?«
»Wen, sagten Sie?«
»Bill O’Casey.«
Eine Pause
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