Der männliche Makel: Roman (German Edition)
der Verkehrssünderkartei hat und er vom Geschworenendienst befreit wurde, weil er einen alten Verwandten pflegen musste.
Und das mir, die ich dafür berüchtigt bin, dass ich immer alles perfekt durchplane. Bis ins letzte Detail. Und jetzt stehe ich vor der Tür eines wildfremden Menschen und fühle mich unwohl in meiner Haut. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich das, was ich ihm sagen will, in Worte fassen soll.
Ich weiß nur, dass das Gespräch, das wir führen werden, ein ziemlicher Schock für ihn sein wird. Gütiger Himmel, wahrscheinlich wird er glauben, dass ich Alimente und Kindesunterhalt von ihm will. Aber da ich nun schon so weit gekommen bin und nichts mehr zu verlieren habe, klopfe ich ein letztes Mal laut an die Tür. Noch immer nichts. Nur die Fernsehsendung, in der gerade eine Vase aus den Fünfzigern für sage und schreibe achtzehn Euro angeboten wird. Ich will gerade umkehren, als sich direkt über mir ein Fenster öffnet.
»Hallo? Was soll der verdammte Krach da unten?«, ruft eine Männerstimme.
Ich blicke auf und sehe einen Mann, der den Kopf aus dem Schlafzimmerfenster streckt. Er ist etwa in meinem Alter und trägt, wie ich feststelle, nicht viel mehr als ein Unterhemd.
»Äh, entschuldigen Sie die Störung«, erwidere ich. »Ich hätte nur eine Frage.«
»Muss das ausgerechnet jetzt sein? Lassen Sie uns doch in Ruhe. Ich komme gerade von der Schicht. Seit zwei Uhr heute Morgen bin ich im Taxi gesessen, Schätzchen …«
Wie mir klar ist, bleibt mir nur noch eine Sekunde, bevor er das Fenster zumacht und sich wieder ins Bett legt. Also werde ich aktiv.
»Ich suche einen Billy oder Bill O’Casey. Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?«
»Sie sprechen gerade mit ihm.«
»Verzeihung, Sie sind Bill O’Casey?«
»Ja. Warum interessiert Sie das?«
»Äh … es ist nichts. Eine Verwechslung … tja, es tut mir schrecklich leid, dass ich Sie belästigt habe. Ich fürchte, man hat mir eine falsche Adresse gegeben. Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung … ich wollte Sie wirklich nicht stören …«, stammle ich, während ich zurückweiche und auf mein Auto zusteuere.
»Heißt das, ich darf jetzt weiterschlafen?«, höhnt er.
»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie vielmals …«
Ich springe ins Auto und lege den Rückwärtsgang ein. Ich bin zwar enttäuscht, aber gebe mich nicht geschlagen. Noch nicht. Da eine SMS von Helen eintrifft, die wissen will, ob ich weitergekommen bin, rufe ich sie an.
»Nun?«, ruft sie, um Lily zu übertönen, die im Hintergrund das Klavier bearbeitet. Sobald sie bemerkt, dass Tante Helen mit mir telefoniert, höre ich, wie sie mit ihrem engelsgleichen Kinderstimmchen sagt: »Hat sie meinen Daddy schon gefunden? Kommt er mich bald besuchen?«
Es ist wie ein Messerstich in die Magengrube. Mir schießt ein unbeschreiblicher Schmerz durchs Herz, und ich frage mich, was wohl in dem armen Kind vorgehen mag.
»Pst, Schätzchen. Lass mich kurz mit Mummy reden.« Helen beruhigt sie und gibt ihr dicke, schmatzende Küsse aufs Köpfchen.
Unter gewöhnlichen Umständen würde ich diese Geräusche auch als Messerstich empfinden. Wie ich zu meiner Schande gestehen muss, aus reiner Eifersucht. Weil jemand anderer, nicht ich, Lily in diesem Moment bemuttert, während ich wie eine Idiotin mitten im tiefsten Darndale in einer Sozialbausiedlung herumkurve und möglicherweise einer falschen Fährte folge.
Aber nicht jetzt. Nicht, wenn ich all das nur Lily zuliebe veranstalte.
Und wer weiß. Vielleicht kann ich diesem Mann ja helfen, ganz gleich, wer er auch sein mag. Ich kann ihn unterstützen, damit er sich wieder fängt. Dann wird er, wenn der Tag, an dem Lily ihn kennenlernt, unweigerlich kommt, ein Mensch sein, auf den sie stolz sein kann. Mit einem Beruf, einem Auto, einem Eigenheim und einer Kranken- und Rentenversicherung. Kein zwielichtiger Typ, der falsche Namen benutzt und seine Schulden nicht bezahlt. Bis jetzt habe ich im Leben anderen nicht viel Gutes getan. Doch es gibt keinen Grund, warum sich daran nichts ändern sollte.
Und da ist noch etwas, das mich wirklich überrascht. Denn so ermüdend, anstrengend und sogar beängstigend die Sucherei auch sein mag, sie erinnert mich an ein anderes Leben, nämlich an meine Zeit als Jungreporterin, in der ich ständig von Tür zu Tür geschickt wurde. Das heißt, lange, lange bevor ich in Rekordgeschwindigkeit in die luftigen Höhen der Chefredaktion aufgestiegen bin.
Für gewöhnlich schauen
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