Der männliche Makel: Roman (German Edition)
das war das Einfachste. Zufällig kann ich dir genau sagen, wo er sich in dieser Minute aufhält.«
Oh Gott, ich glaube, ich muss gleich in eine Papiertüte atmen.
»Krieg keinen Schock, okay?«
»Sag es mir«, erwidere ich mit heiserer Stimme. »Ich muss es wissen.«
Jimmy betrachtet mich mit gütiger, ja, fast väterlicher Miene.
»Hör mir zuerst einmal zu. Ganz gleich, was da läuft, Eloise, nimm meinen Rat an und lass sofort die Finger davon. Vertrau mir, er ist es nicht wert, und wenn du die Sache weiter vorantreibst, handelst du dir nichts als Schwierigkeiten ein.«
»Bitte … bitte erzähl es mir.«
»Jake Keane ist im Gefängnis. Er hat seine zweijährige Haftstrafe fast hinter sich. Und ich denke, er sitzt nicht deshalb, weil er seine Rundfunkgebühren nicht bezahlt hat, das kann ich dir versichern.«
Als ich mich bei ihm bedanken will, bringe ich aus irgendeinem Grund keinen Ton heraus.
Teil zwei
Kapitel fünf
Was einem niemand über die Zeit drinnen verriet, dachte Jake Keane oft, war, dass es die kleinen Dinge waren, die einem halfen, jeden Tag zu überstehen. Auch noch so unbedeutende Erfolgserlebnisse, die einen weiterleben ließen, anstatt in einem den Wunsch auszulösen, sich an der Deckenlampe aufzuhängen, nur um rauszukommen und frei zu sein, bevor man vergaß, wie sich das anfühlte.
So überstand man wieder einmal einen endlosen Tag, jeder davon so lang, dass sich sogar eine Stunde hinzog wie ein Monat. In letzter Zeit hatte Jake viel von Virginia Woolf gelesen, einer Autorin, die es wirklich zu verstehen schien, was es hieß, eingesperrt zu sein. Er konnte ihren Satz voll und ganz nachvollziehen, dass einen Tag auszuhalten verhältnismäßig einfach sei. Es seien die Stunden dazwischen, die einen fast umbrächten.
Und das war kein Scherz. Manchmal schaute er um acht Uhr abends auf die Uhr und beglückwünschte sich dazu, dass er die volle Stunde seit sieben überlebt hatte. Die nächste Herausforderung war dann die kommende Stunde bis neun. So schlug man sich durch, wie er inzwischen wusste. Man hangelte sich von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde. Bis es dunkel wurde, bis zum Einschluss, bis endlich Ruhe einkehrte und er sich zu seiner tiefen Freude sagen konnte: Ja, geschafft. Wieder ein Tag vorbei. Wieder ein Tag abgehakt.
Und so klammerte man sich an die kleinen Freuden des Alltags. Zum Beispiel, wenn man im Speisesaal einen Fensterplatz ergatterte. Wenn es etwas zu essen gab, das tatsächlich genießbar war und nicht aussah und schmeckte wie in geronnenem Fett schwimmendes Katzenfutter. Wenn man beim Hofgang ein bisschen Sonne abbekam. Selbst wenn der Himmel seine Schleusen öffnete und es goss wie aus Eimern, ging Jake hinaus und nutzte die eine Stunde, die man ihm zugestand, obwohl er hinterher bis auf die Haut durchnässt war. Er hätte alles für frische Luft gegeben. Es wunderte ihn selbst, wie sehr ihm das fehlte und wie wenig er es damals als freier Mann zu schätzen gewusst hatte.
Es war ein guter Tag, wenn es ihm gelang, eine Zigarette zu schnorren und sie gegen ein ordentliches Buch einzutauschen, das ihn dann eine Weile beschäftigte. Keines aus der Bibliothek, die zu nichts zu gebrauchen waren, weil oft Seiten daraus fehlten. Bücher, die die Aufseher von draußen einschmuggelten, waren viel besser. Sie kosteten zwar Geld, doch das waren sie wert. Das hatte Jake schon sehr früh gelernt.
Lesen half ihm, das alles zu ertragen. Es war das Beste, die Nase in ein Buch zu stecken und sich nicht einzumischen. Denn wenn hier eine Überlebensregel galt, dann lautete sie: Kopf runter, Mund zu, sich weder Freunde noch Feinde schaffen, so neutral sein wie die Schweiz und so wenig auffallen wie die Tapete an der Wand. Gib dir Mühe, jemand zu sein, den die anderen weder mögen noch ablehnen, sondern den sie vergessen, sobald sie dir den Rücken zukehren. Und vor allem, halt dich aus allem raus.
Er kam auch verhältnismäßig gut mit den Aufsehern zurecht, die ihm hin und wieder einen Gefallen taten. Einer schrieb ihn sogar für ein Fernstudium ein, Englisch und Psychologie, woran er große Freude hatte, sodass er sich große Mühe gab. Im ersten Jahr hatte er auch einen Kurs im Unterrichten von Englisch als Fremdsprache belegt. Zu seiner eigenen Überraschung hatte es ihm wirklich Spaß gemacht, sich mit den unzähligen Feinheiten der englischen Sprache zu beschäftigen. Und außerdem war sein Fleiß von Erfolg gekrönt gewesen, denn er hatte mit der Bestnote
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