Der männliche Makel: Roman (German Edition)
betrat, sah er kein bekanntes Gesicht und auch niemanden, der ein Mitglied des Bewährungsausschusses hätte sein können. Nur ein paar Jungs aus anderen Zellenblocks, die in angespannte Gespräche mit ihren Verteidigern vertieft waren. Offenbar stand bei ihnen die Hauptverhandlung noch aus. Das war aus ihren erhobenen Stimmen, den geröteten Gesichtern und dem nervösen Vibrieren zu schließen, das von ihnen ausging. Währenddessen saßen ihre Anwälte ihnen ruhig gegenüber, die Fingerspitzen aneinandergelegt, mit gelangweilten Mienen und die Ohren auf Durchzug geschaltet. So, als hätten sie jede abgedroschene, alte, überstrapazierte Ausrede schon tausendmal gehört und überlegten nur, wie schnell sie sich wieder in ihre gemütlichen Kanzleien verdrücken und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die schmuddelige Tristesse von Wheatfield bringen konnten.
So angestrengt Jake auch Ausschau hielt, er entdeckte niemanden, der ihn hätte erwarten können. Immer wieder schritt er den schmalen Flur auf der Häftlingsseite ab und spähte durch jedes Gitterfenster. Nichts.
Als er schon aufgeben und umkehren wollte, ließ ihn eine Stimme schlagartig innehalten.
Eine Frauenstimme, klar, deutlich und sachlich.
»Verzeihung, aber sind Sie zufällig Jake Keane?«
Die Frau war ganz sicher nicht vom Bewährungsausschuss. Sie war noch ziemlich jung, schätzungsweise Anfang dreißig, sehr schlank und geisterhaft bleich, wodurch ihre pechschwarzen Augen noch stärker betont wurden. Feines dunkelbraunes Haar, ordentlich zurückgebunden, ein elegantes schwarzes Kostüm, schwarzer Aktenkoffer, alles schwarz. Attraktiv, obwohl sie aussah, als hätte sie seit drei Jahren nicht mehr geschlafen. Doch wenn sie etwa drei Kilo zugenommen und sich ein wenig in die Sonne gesetzt hätte, dachte Jake, wäre sie hübsch, ja, sogar eine Schönheit gewesen. Anwältin, vermutete er. Jedenfalls hatte sie die gleiche offizielle, förmliche und steife Ausstrahlung wie die Anwälte, die sonst hier aufkreuzten.
»Guten Morgen«, begann sie mit Anspannung in der Stimme. »Äh … es tut mir leid, dass ich Sie störe, aber ich würde mich freuen, wenn Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit opfern würden.«
»Nun, wenn Sie es noch nicht bemerkt haben sollten« – Jake lächelte sie durch das Gitter spöttisch an –, »habe ich alle Zeit der Welt. Also bin ich, wie man sagen könnte, ein aufmerksamer Zuhörer.«
Mit diesen Worten schob er sich das blonde Haar aus dem Gesicht, verschränkte die Arme und spitzte die Ohren. Dabei musterte er sie von Kopf bis Fuß. Mit der war nicht gut Kirschen essen, so lautete seine erste Einschätzung. Das erkannte er schon daran, wie kerzengerade sie dasaß, als wolle sie jeden Moment eine Sitzung leiten.
Dann jedoch bemerkte er, dass ihre mageren, knochigen Finger nervös auf das schmale Sims vor ihr klopften. Also beschloss er, es ihr leicht zu machen, um sie zu beruhigen.
»Hören Sie«, meinte er, ein wenig freundlicher. »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind. Doch falls Sie von der Organisation der Pflichtverteidiger kommen, hätten Sie sich den Weg sparen können. In ein paar Wochen steht meine Bewährungsanhörung an …«
»Ich bin keine Anwältin. Ich heiße Eloise Elliot«, entgegnete sie mit kultiviertem Akzent. Aus irgendeinem Grund war Jake dieser Name vertraut.
»Eloise Elliot«, wiederholte er und zermarterte sich das Hirn danach, woher er diesen Namen kennen könnte.
»Chefredakteurin der Post .«
Endlich ging ihm ein Licht auf. Natürlich. Schließlich las er jeden Tag in der Gefängnisbibliothek die Online-Ausgabe. Wahrscheinlich hatte er ihren Namen schon tausendmal im Impressum gesehen. Gut, nun konnte er sie immerhin besser einschätzen. Offenbar war sie mit ihrem Beruf verheiratet, eine dieser Arbeitssüchtigen, die an ihren Schreibtisch gekettet waren, eine Frau, die für ihren Job lebte. Konzentriert, scharfer Verstand, und wenn ihn nicht alles täuschte, eine alte Jungfer. Einen Ehering trug sie jedenfalls nicht. Auch keinen anderen Schmuck oder irgendwelche Accessoires oder Make-up. Nichts, um ihr fahles Äußeres aufzulockern. Aus Erfahrung wusste er, dass nur Frauen in Toppositionen das Selbstbewusstsein hatten, sich so ein erschöpftes, abgearbeitetes Aussehen zu gestatten. Unter wettbewerbsorientierten Alphatierchen war das fast so etwas wie eine Tapferkeitsmedaille.
Übrigens hatte er diese Insiderinformationen aus den Psychologiebüchern, die er in den letzten
Weitere Kostenlose Bücher