Der männliche Makel: Roman (German Edition)
abgeschnitten.
Das Studium war eine wundervolle und willkommene Ablenkung, die ihm auch ein wenig Privatsphäre verschaffte. Wenn die anderen ihn drängten, in der Pause auf dem Hof Fußball zu spielen, verdrehte er nur die Augen zur Decke und deutete auf den Bücherstapel auf seinem Knie, den er noch durcharbeiten musste. Und so hänselten sie ihn als Professor und ließen ihn in Ruhe. Was ihm sehr recht war.
Man lebte für den Besuchstag. Das taten alle hier. Er war eine Unterbrechung des Alltagstrotts und brachte ein wenig Abwechslung. Jeden Mittwoch zwischen zwei und vier. Das Problem war nur, dass man seine Angehörigen nur etwa eine halbe Stunde davon zu Gesicht bekam. Die restliche Zeit standen sie vor dem Gebäude Schlange oder mussten sich Sicherheitskontrollen unterziehen. Am meisten taten Jake die Ehefrauen und Freundinnen leid, die bei Wind und Wetter mit ihren Kinderwagen eintrafen und stundenlang draußen in der Eiseskälte warteten, nur um ihren Liebsten dreißig jämmerliche Minuten lang zu sehen. Und das nicht einmal unter vier Augen, denn man saß im Besucherzimmer, wo einen das halbe Gefängnis beobachtete. Aber wenn man drinnen war, bedeutete diese halbe Stunde einem alles.
Inzwischen war seine Mam Imelda seine wichtigste Besucherin. Mit ihren fünfundsechzig Jahren nahm sie noch immer die anstrengende Fahrt mit zwei Bussen und dann den anderthalb Kilometer weiten Fußmarsch bergauf von der Haltestelle zum Gefängnistor auf sich, nur um ihren jüngsten Sohn einmal in der Woche eine halbe Stunde lang zu besuchen. Sie hatte noch keinen einzigen Termin verpasst und war so zuverlässig, dass es ihm fast das Herz brach. Immer war sie da und schenkte ihm ein zittriges Lächeln, machte gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich nicht anmerken, wie entsetzlich sie sich schämte.
Außer ihr hatten nur Anwälte ein Besuchsrecht. Wenn ein Prozess oder eine Berufungsverhandlung anstand, durfte der Verteidiger einen jederzeit sehen, ohne dass das Wachpersonal Einspruch erheben konnte. Allerdings war Jake noch nie in den Genuss dieses Privilegs gekommen, weil sein Prozess fast zwei Jahre zurücklag. Damals war er auf einen kostenlosen Pflichtverteidiger angewiesen gewesen, was hieß, dass ein wohlmeinender, aber völlig unerfahrener Hochschulabsolvent seinen Fall betreute. Der junge Mann hatte beim Anblick des Richters und der Geschworenen vor Lampenfieber fast einen Schlaganfall erlitten und bei der Urteilsverkündung zu zittern angefangen. Er war so den Tränen nah gewesen, dass Jake Mitleid mit dem armen Kerl bekommen und ihn getröstet hatte, während er in Handschellen auf seinen Abtransport ins Cloverhill Detention Center wartete, die erste Station, bevor in einer richtigen Haftanstalt ein freies Bett gefunden war.
Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, hätte es komisch sein können.
Und so war Jake völlig perplex, als man ihm an einem sonnigen Frühlingstag kurz nach Ostern mitteilte, er habe Besuch und solle sich sofort durch die Sicherheitsschleuse in den Besucherraum begeben. Ein Anwalt war es ganz bestimmt nicht, da war er sich völlig sicher. Jake kannte den Aufseher, der ihn zur Kontrollstelle brachte. Er hieß Cagney und war ein netter Kerl, wenn man ihn richtig behandelte.
»Haben Sie eine Ahnung, wer es ist?«, erkundigte sich Jake, während er durchsucht, abgetastet und dann auf dem Weg aus Zellenblock C durch den Metalldetektor geschleust wurde.
Cagney zuckte die Achseln.
»Ihr Bewährungshelfer vielleicht?«
Allerdings hielt Jake das für höchst unwahrscheinlich. Seine Bewährungsanhörung stand erst Ende des Monats an, weshalb es noch viel zu früh war, um dieses Thema mit ihm zu erörtern.
»Wissen Sie«, fuhr Cagney in dem freundlichen Ton fort, der zwischen ihnen normalerweise herrschte, »das ist jetzt natürlich nur unter uns, aber Ihre Chancen, hier vorzeitig rauszukommen, stehen gut. Wenn sich jeder Häftling so gut führen würde wie Sie, wäre mein Job ein Kinderspiel. Ich werde Sie in den höchsten Tönen loben, wenn es so weit ist. Darauf können Sie sich verlassen. Ehrenwort.«
Darauf war Jake noch gar nicht gekommen. Gute Nachrichten nahm er selten wahr. Hier war es um einiges ungefährlicher, immer vom Schlimmsten auszugehen. So ersparte man sich den dumpfen Schmerz der Enttäuschung, wenn es nicht lief wie geplant. Was in seinem Leben ohnehin nur selten der Fall gewesen war.
Als er endlich die Sicherheitskontrolle hinter sich hatte und den Besucherraum
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